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Rund um den Holzmarkt

Holzmarkt 1 Ecke Mühlengasse die Dörfchenschänke um 1920

Holzmarkt 1 Ecke Mühlengasse die Dörfchenschänke um 1920
Foto: Kirchenarchiv Unterneustadt

Der verschwundene Marktplatz der Unterneustadt

Beim großen Bombenangriff im Oktober 1943 war der Holzmarkt in der Unterneustadt von der Bildfläche verschwunden. Erst durch den Wiederaufbau des inneren Kern im Rahmen der „kritischen Rekonstruktion" erblickte der Holzmarkt wieder das Licht der Welt.

Der Holzmarkt war bis 1790 mit der in der Mitte stehenden Magdalenenkirche der Kirchplatz der Unterneustadt. Bedingt durch den Bau der Wilhelmsbrücke (1794) und der damit neu gestalteten Straßenführung in der Unterneustadt, verdankte er seine damalige Funktion. Der Lebensmittelpunkt des Stadtteiles war vorher der Platz um die Kirche und der am südwestlichen Ende gelegene Rädermarkt in der Mühlengasse. Zum Opfer fielen damals das alte Unterneustädter Rathaus und das Wohnhaus des „hessischen Chronisten" Wilhelm Dillich, dass in der Mühlengasse unmittelbar neben dem Jägerhaus lag und dem Durchbruch zur Brücke im Wege stand.

Ausschnitt aus dem Stadtplan von 2011 und von 1930 mit Blick auf Holzmarkt und Unterneustädter Kirchplatz
Ausschnitt aus dem Stadtplan von 2011 und von 1930 mit Blick auf Holzmarkt und Unterneustädter Kirchplatz  Foto: Stadtarchiv Kassel

Die räumliche Idylle, auch bedingt durch sein Baukastensystem einer geschlossenen Häuserfront mit einer überschaubaren Platzgröße, wurde von der Waisenhausstraße im östlichen und von der Mühlengasse im westlichen Teil begrenzt. Der Holzmarkt verdankt seinen Namen der Genehmigung des Landgrafen Wilhelm IX., dem Holzverkauf aus den noch damals naheliegenden Wäldern. Man vermutet, dass der Landgraf trotz mehrmaligen Drängen der Kirchengemeinde die abgerissene Kirche zu ersetzen, erst 8 Jahre später nachkam und darum den Holzverkauf zuließ.

Holzmarkt geschmückt zur Tausendjahrfeier 1913 Blick zum Altmarkt und Martinskirche
Holzmarkt geschmückt zur Tausendjahrfeier 1913 Blick zum Altmarkt und Martinskirche  Foto: Archiv Unterneustädter Kirche

Der Holzmarkt war nicht nur Marktplatz sondern auch das geschäftliche Zentrum der Unterneustadt. Das älteste Kolonialwarengeschäft am Holzmarkt Nr. 8, Ecke Waisenhausstraße führte Conrad Eimer. Es wurde von der Familie 1791 gegründet und über viele Generationen bis 1930 von der Familie geführt. Im Nachbarhaus Nr. 9 hatte der Fleischermeister Conrad Hilgenberg sein Domizil, beide Häuser hatten in der dahinter liegenden Bädergasse, einen zweiten Hauseingang. Bis auf die Eckhäuser der Bädergasse hatten alle Häuser des Holzmarktes auf der rechten Seite einen zweiten Ausgang in der dahinter liegenden Bädergasse.

In dieser sorglosen Idylle zwischen Kennen und Vertrauen machten viele Anekdoten die Runde. Eine Zigeunerin kaufte bei Eimers ein Pfund Bohnenkaffee, den sie sich gleich ohne Tüte in einen Tontopf schütten ließ. Mit der Bitte,„habe noch was beim Nachbar zu kaufen und komme gleich wieder", stellte sie den Topf vorerst ohne Bezahlung auf den Ladentisch und verschwand. Als sie nicht wieder kam, entdeckte man, dass der Topf keinen Boden hatte und dass sie sich den Bohnenkaffee in die darunter aufgeraffte Schürze hatte schütten lassen.

Der Holzmarkt löste auch später durch die Straßenbahnhaltestelle „Holzmarkt", die Alte Leipziger Straße ( Brückenstraße) später Bettenhäuser Straße als gefühlte Hauptstraße ab. Auf dem oberen Bild ist auch die älteste Apotheke der Unterneustadt, die „Adler Apotheke", in dem Eckhaus zur Brücke hin erkennbar.

Am 6.3.1931 konnte die „ Adler Apotheke" in der Kasseler Unterneustadt auf ein 155 jähriges Bestehen zurückblicken. Auf Anregung des Landgrafen Friedrich II. wurde 1776 die erste Apotheke errichtet, da man das Fehlen einer Apotheke in der Unterneustadt als großen Mangel empfand. Seit seiner Errichtung hat sie bis zum Jahre 1931 vierzehn Besitzer gehabt.

In seiner fast 150jährigen Geschichte bis zur folgenschweren Bombennacht im Oktober 1943, bei dem vom Holzmarkt nichts übrig blieb, befanden sich fast zwei Dutzend Geschäfte, Gaststätten, und Handwerksbetriebe auf dem Holzmarkt wie z. B.: Carl Crocoll (Bauklempner), Heinrich Kleinschmidt (Schuhwaren), Lebensmittel Jacob Günther und Kolonialwaren Matthäi, Bäckerei Waßmuth, Friseur Lange, Kunst- und Bauschlosserei Brübach, Gastwirtschaft Ulott, Malermeister Jacob, Fleischerei Hilgenberg.

Von der zugewanderten Familie Gunkel die auf dem Holzmarkt No. 3 Ecke Kreuzstraße eine Fleischerei betrieb, stammt auch eine Chronik, die aus der Perspektive des Holzmarktes geschrieben ist. Dieser Familie entstammt auch der berühmte Historienmaler Friedrich Gunkel, der 1803 am Holzmarkt geboren ist. Schon in den zwanziger Jahren gab es an der Ecke zur Leipziger Straße das Kaufhaus der „Billigsten Quelle".von B. Winkler Nachf. Joh. C. Söllner. Dem Eckhaus folgte die Bäckerei Branner, Leipziger Straße 2., hier wurde Karl Branner geboren, Oberbürgermeister der Stadt Kassel von 1963-1975. Über die Grenzen des „Dörfchen" hinaus war auch das Bild der Marktfrau von „Oma Bolte "auf
dem Holzmarkt bekannt.

Sophie Bolte beim Verkauf von Obst und Gemüse in den dreißiger Jahren auf dem Holzmarkt
Sophie Bolte beim Verkauf von Obst und Gemüse in den dreißiger Jahren auf dem Holzmarkt  Foto: Kirchenarchiv Unterneustadt
In der Lebensmittelhandlung Thiele begann Sophie Bolte als Pächterin.
In der Lebensmittelhandlung Thiele begann Sophie Bolte als Pächterin.  Foto: Kirchenarchiv Unterneustadt

Um den Holzmarkt kursierten Geschichten und Erzählungen, die größtenteils auf wahren Begebenheiten beruhten. In der Gastwirtschaft Ulott hing ein Ziegenbockgehörn an der Wand dessen Geschichte längere Zeit eine Art Wahrzeichen des Holzmarktes war. Vorausgegangen war ein Geschenk Bäckermeister Riemann an seinen Kindern, er schenkte der damaligen Zeitmode entsprechend ihnen ein Ziegenbock mit Geschirr für einen Ziehwägelchen. Das neugierige Tier überkletterte die Hofmauer des benachbarten Malermeister Jakob und fiel in einen Bottich mit blauer Farbe und galt fortan als der „Blaue Bock" des Dörfchen. Der Sticheleien müde schenkte Riemann das Tier seinem Nachbarn Ulott, der es schlachten und das Gehörn in seiner Gastwirtschaft aufhängen ließ.

Aber die viel beschriebene Sorglosigkeit der Platzidylle des Holzmarktes täuscht. Im Jahre 1813 spielte sich hier der Kampf zwischen dem Kosakenregiment des General Czernicheff und den Truppen von König Jerome ab. Augenzeuge wurden auch die Bewohner 1850 beim Einmarsch der Strafbayern mit der Einnahme des Kastells. Über die Einlieferungen von Gefangenen ins Kastell und der Abmarsch der Todeskandidaten war kein Bewohner Kassels besser informiert als die Bewohner des Holzmarktes.

Die Unterneustadt war nicht nur an Gaststätten reich gesegnet, sondern auch in regelmäßigen Abständen vom Hochwasser betroffen Der Holzmarkt und die umliegende Straßen und Gassen lagen im Gegensatz zu heute wesentlich tiefer und verzeichneten teilweise bis zu zwei Meter Hochwasserstand. Die größten Hochwasser bekam das Dörfchen 1909 und 1925/26 zu spüren. 1943 bei der Sprengung der Edertalsperre konnte man sogar in der Hafenstraße mit dem Paddelboot fahren. Die verheerenden Hochwasser der vergangenen Jahrhunderte sind heute noch im Torbogen der Unterneustädter Mühle in der Mühlengasse markiert.

Hochwasser 1909 auf dem Holzmarkt Ecke Waisenhaus Straße
Hochwasser 1909 auf dem Holzmarkt Ecke Waisenhaus Straße  Foto: Unterneustädter Kirche

Mit Holzstegen, Pferdefuhrwerken und Booten trotzen sie dem Hochwasser. Beim „Summser" im Wasserwehr-Lokal „Weißer Schwan" tagten die Mitglieder der Wasserwehr unter dem „Deichhauptmann" genannt „Schwimmi" Gerhadt, Oberinspektor Steinbach, Metzgermeister Börner, Kohlen - Dülfer und die Gärtner Henner Röse und Gerhardt. Nach dem Rückgang des Wassers wurde dann die „Wasserkirmes" mit einem Fass Bier gefeiert.

Aber selbst bei geringem Hochwasser gerieten die Bewohner der tiefer liegenden Plätze und Straßen in Aufregung. Das Grundwasser füllte zuerst immer die Keller, so befand sich in den Steinböden in der Mitte ein viereckiges verschaltes Loch, in dem man das Wasser steigen sehen konnte. Bei Kerzenschein wurde der Anstieg des Wassers beobachtet, bis das Familienoberhaupt ein Zeichen gab, um die Kartoffeln und sonstige Vorräte in die oberen Stockwerke zu tragen.

Allerdings gewann man dem Wasser auch positive Seiten ab. Die Kinder paddelten mit Mutters Waschzuber auf dem Holzmarkt und anliegenden Gassen herum. Der Zisselbeitrag 1925 „mä honns, mä konns, mä fahren uff der Fulle mit dem Stunz". dürfte wohl seinen Bezug aus diesem Kindervergnügen bezogen haben. Auch Erwachsenen ließen ihre Kontakte nicht ruhen und fuhren mit größeren Kähnen von Haus zu Haus. Der Eingang war dann nicht die Haustüre sondern der erste Stock.

Text: Gerhard Böttcher, März 2012

 

Editor: Erhard Schaeffer, März 2012

Bilder + Karten: Stadtarchiv, Archiv, Archiv gb, Unterneustädter Kirche

Literatur:

  • Kasseler Post 1930, HNA 2006, HNA No.16, HNA 1976
  • Bilder aus dem Alten Kassel von Friedrich Herbordt
  • Kasseler Klassik von Hans Römhild
  • Blick zurück aus alte Kassel von Wolfgang Hermsdorff
  • Bau-und Kunstdenkmäler Dr. phil A. Holtmeyer

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Kurzbeschreibung

Der verschwundene Marktplatz der Unterneustadt

Beim großen Bombenangriff im Oktober 1943 war der Holzmarkt in der Unterneustadt von der Bildfläche verschwunden. Erst durch den Wiederaufbau des inneren Kern im Rahmen der „kritischen Rekonstruktion" erblickte der Holzmarkt wieder das Licht der Welt.

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