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Meiner Mutters Kriegsgeschichte
- Autor: Erhard Schaeffer
- Zeit: 1943
- Ort: Bettenhäuser Straße
- Vom: 13.06.2012
- Themen: Zweiter Weltkrieg, Menschen erzählen
Meine Mutter, Elisabeth Wendel Hämmerling (später Matherne), eine deutsche Staatsbürgerin, lebte in Kassel (Deutschland) mit ihrem Mann und drei Kindern. Während des Zweiten Weltkrieges erwies sich die Nacht vom 22. Oktober 1943 als höchst tragisch für sie. In dieser Nacht verlor sie ihr Heim und ihre Familie.
Kassel stand seit dem Jahr 1940 unter Beschuss von britischen und später auch von amerikanischen Bombern. Deren Mission war es, die lokale Kriegsmaterial herstellende Industrie zu zerstören. In der Nacht vom 22. Oktober 1943 wurde die Stadt fast vollständig zerstört.
Meine Mutter erzählte mir viele Geschichten aus ihrem Leben, vor allem Erlebnisse während des Krieges. Sie begannen mit einer Aussage über ihre Kinder, die in jener schrecklichen Nacht in Kassel gestorben waren. Ich hatte Fragen zu meinem Bruder und meiner Schwester und wollte wissen, wie sie starben. Sie fing damit an mir zu sagen was passiert war und bevor sie die Geschichte zu Ende bringen konnte, fing sie an zu weinen und ich weinte mit ihr. Es folgt hier eine sehr verkürzte Version von diesem tragischsten Ereignis im Leben meiner Mutter:
Die Familie lebte in der Bettenhäuser Straße 10 in der Unterneustadt von Kassel. In diesem historischen Haus wurde bereits 1763 die Blaudruckerei Engelhardt gegründet. Der Betrieb befand sich fast 150 Jahre in der Unterneustadt in der Alten Leipziger Straße 950 bis 951, der späteren Bettenhäuser Straße 10.
Die Unterneustadt war durch die Fulda vom wichtigsten Teil der Stadt, der Altstadt, getrennt. Es war die Nacht des 22. Oktober 1943. Durch den Fliegeralarm der Sirenen und erste Bombenexplosionen in der Nähe aufgeschreckt, rannten Elisabeth und ihre Kinder, Dieter, Ludwig und Edelgard in den Keller. Erna Wendel, die Mutter meiner Mutter, war auch zu Hause und schloss sich ihnen schnell an. Hans Hämmerling, Ehemann meiner Mutter, und Georg Wendel waren nicht zu Hause. Hans war im nahe gelegenen Stadtteil Waldau bei der Arbeit. Mit dem Signal - Fliegeralarm - das in der ganzen Stadt ertönte, eilte er vom Luftwaffenstützpunkt in Waldau nach Hause, während die Bomben überall zu detonieren begannen.
Die Bombardierung überschwemmte den Fluss die Straßen und das Wasser kam hoch bis in den Keller. Die Wohnung stand in Flammen. Auf der Suche nach einem Ausweg kroch Elisabeth in einen Tunnel, der andere Keller im selben Gebäudeblock verband. Sie musste einen Ausweg finden. Auf dem Rücken rutschend mit Dieter auf dem Bauch kroch sie durch den Tunnel. Dieter war zu diesem Zeitpunkt ein Jahr und drei Monate alt. Sie musste herausfinden, ob der Weg auf der anderen Seite für sie offen war. Wenn sie in der Lage war einen Ausgang zu finden, konnte sie ihrer Familie die Flucht vor dem steigenden Wasser ermöglichen. Als sie auf die anderen Seite ankam, stellte sie fest, dass der Weg mit einem Bierfass blockiert war. Mutter erklärte mir, die Nachbarn mussten dies getan haben, weil ihr Keller bereits voll war und keine Leute mehr aufnehmen konnte. Jetzt musste Elisabeth den Weg zurück zu ihrem eigenen Keller kriechen, mit Dieter auf dem Bauch. Sie fand bald heraus, dass eine sehr große Dame nach ihr in den Tunnel eingestiegen und dort gestorben war. Elisabeth musste die tote Dame mit ihren Füßen vor sich her schieben auf dem Weg zurück zu ihrem Keller. Schließlich am Ende des Tunnels schob sie den toten Körper der Frau hinaus auf den Kellerboden.
Mutter erinnerte sich: "Die Gebäude waren alle in Brand und stürzten auf beiden Seite von mir ein. Ich lief durch die Straßen mit Dieter in meinen Armen. Es war dunkel wie in der Nacht. Der Rauch war wie eine dicke Wolke, er war so dicht. Die Straßen waren alle aufgebrochen und heiß vom Feuer. Meine Schuhe brannten, die Schuhsohlen rollten sich zusammen. Dann hatte ich keine Schuhe mehr. Meine Füße und Haare brannten. Phosphor war überall auf mir und Dieter. Ich lief zur Fulda um unsere brennenden Kleidern zu benetzen und den Phosphor abzuwaschen."
Sie erreichte schließlich den Park und wartete dort mit anderen Überlebenden, bis befohlen wurde wegen einer nicht explodierten Bombe in ihrer Mitte, diesen zu verlassen. Als der Angriff vorbei war und sie sich zurück zu ihrem Heim wagte, sah sie, dass es dort nur noch einen Trümmerhaufen gab. Sie ging von Ort zu Ort auf der Suche nach ihrer Familie in der Hoffnung sie seien rechtzeitig herausgekommen. Schließlich mit wenig verbliebener Hoffnung, fing sie an alle Leichen zu durchsuchen, die auf den Straßen aufgereiht waren, um identifiziert und begraben zu werden. Sie suchte die Reihen der Leichen drei Tage lang ab.
Wieder ging sie zurück an den Ort, an dem ihr Hause gestanden hatte. Jetzt sah sie Soldaten die in den Trümmern gruben. Ihr Augen erblickten grünen gestrickten Socken... Socken die sie selbst gestrickt hatte und die von den Füßen eines kleinen Jungen baumelten. Ein Soldat grub ihren Sohn Ludwig aus. Sie brach vor Kummer zusammen und endete in einem Krankenhaus, wo sie die nächsten drei Wochen verbrachte. Die Leichen ihres Ehemann, der Kinder und ihrer Mutter waren gemeinsam zusammengekauert in den Trümmern gefunden worden.
Jahre später wurde entdeckt, dass Mutter unter denjenigen verzeichnet worden war, die zusammen mit dem Rest der Familie in der Bettenhäuser Strasse 10 gestorben waren. Zweifellos dachte man, dass der Körper der Frau die im Tunnel gestorben war, der meiner Mutter sei.
Nach dieser schrecklichen Nacht des 22./23.Oktober 1943, sollten mehrere Jahre Kampf ums Überleben für meine Mutter folgen. Die Bombardierung gingen weiter und sie musste noch häufiger Schutzräume (wie öffentliche Luftschutzbunker) ergattern. Die Notwendigkeiten des Lebens waren rar für die Deutschen in jenen Jahren. Ein karges Dasein war alles, auf was Jeder hoffen konnte, sogar bis einige Jahre nach Kriegsende.
Mit der Niederlage Hitler-Deutschlands kamen die Besatzungstruppen der Vereinigten Staaten in die Region. Dies sollte einen Wendepunkt in ihrem Leben markieren. Ende 1946 kam Gilbert Matherne zur Rothwesten Kaserne bei Kassel. Er war ein amerikanischer Soldat des ersten Constabulary Regiments. Mutter hatte einen Job, sie sang im Café Reiss in Kassel und hier war es wo sie sich trafen. Sie sollten schließlich heiraten und Gilbert sollte Elisabeth und ihr überlebendes Kind, Dieter, zusammen mit ihrem gemeinsamen Kind, Gilbert Jr. heim nach Louisiana bringen. Ich kam ein wenig später, gefolgt von anderen Kindern und Enkeln.
Mutter und Vater sind nun beide gegangen. Oft habe ich das Gefühl, als würde ein Teil von mir zu meiner Mutter gehören, dorthin in diese schwierigen Zeiten, die sie mir so lebhaft nahe gebracht hat. Und ein anderer Teil von mir gehört zu meinem Vater, dem Held, der sie gerettet und nach Amerika gebracht hat.
Autor: Irene Moore, French Settlement Louisiana, USA, 21. Februar 2004
Übersetzung: D. Schaeffer
Editor: Erhard Schaeffer, Juni 2012
Bildquellen:
- Privatfotos Irene Moore
- Kasselaufnahmen Luftbilder von Junkers, Orka Uni Kassel und Werner Dettmar
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Kurzbeschreibung
Meine Mutter, Elisabeth Wendel Hämmerling (später Matherne), eine deutsche Staatsbürgerin, lebte in Kassel (Deutschland) mit ihrem Mann und drei Kindern. Während des Zweiten Weltkrieges erwies sich die Nacht vom 22. Oktober 1943 als höchst tragisch für sie. In dieser Nacht verlor sie ihr Heim und ihre Familie.
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