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Im kalten Winter 1929 konnte man mit dem Auto über die Fulda fahren
- Autor: Gerhard Böttcher
- Zeit: 1918
- Ort: Unterneustadt
- Vom: 07.10.2012
- Themen: Jugend- und Kindheitserinnerungen, Menschen erzählen
Im kalten Winter 1929 konnte man mit dem Auto über die Fulda fahren. Eduard Ress, ein Kind der Unterneustadt, erinnert sich . Seine Schilderungen geben ein Zeitbild aus dem Dörfchen wieder, dass sonst unwiderruflich verloren ginge:
"Ich wurde am 13. Januar 1918 in der Unterneustadt geboren. Meine Eltern hatten 1913 im Haus von Hauswirt Sennhenn in der Leipziger Straße 29 im vierten Stock eine Wohnung gefunden. Über dem vierten Stockwerk hatte der Dachboden eine Betonplatte, die bei schlechtem Wetter von uns Kindern oft zum Fußballspiele benutzt wurde. In der Unterneustadt besuchte ich die Bürgerschule Nr. 7 für Jungen, am Unterneustädter Kirchplatz, Leipziger Straße No. 13. Die Mädchenschule No. 8 lag gleich um die Ecke im Sommerweg No. 1. Zur Einschulung 1924 wurden Mädchen und Jungen nicht nur nach Klassenräumen, sondern auch in getrennten Gebäuden beschult.
Während meiner Schulzeit kann ich mich noch an meinen Lehrer Landau erinnern, der mich bis 1928 zum Wechsel in die Knabenmittelschule unterrichtete. In den zwanziger und dreißiger Jahren besuchten jährlich zwischen 1400 und 1500 Kinder beide Schulen. Die Jungenschule hatte 14 Klassen und die Mädchenschule 16 Klassen, das Lehrpersonal entsprach der Klassenanzahl.
Das man in den zwanziger Jahren auch in der Unterneustadt in der Freizeit Fußball spielte, ist bei den in der Unterneustadt beheimateten Fußballvereinen wie „BC-Sport 1894” und „CSC 03” nicht verwunderlich. Nur damals kickten wir Jungen meist im Halbrund des Unterneustädter Kirchplatzes. Hier war der Verkehr im Gegensatz zur anderen Straßenseite des Unterneustädter Kirchplatzes, in der die Straßenbahn zum Holzmarkt fuhr, kaum von Bedeutung. Der Wechsel 1928 zur Knabenmittelschule in der Frankfurter Straße (heute in Höhe von CineStar), war für mich natürlich eine Umstellung. Jetzt führte mich mein Schulweg nicht mehr gleich um die Ecke, sondern über die Drahtbrücke in Richtung Friedrichsplatz. Dort besuchte ich bis zu Beginn meiner kaufmänischen Lehre 1934 die Schule. Der Sportunterricht der Knabenmittelschule fand immer auf der Hessenkampfbahn statt.
Ich kann mich noch an den kalten Winter im Januar und Februar 1929 erinnern, der mich bei minus 10-20 Grad auf meinem Schulweg täglich über die Drahtbrücke begleitete. Ich war damals elf Jahre alt. Aus dieser Zeit sind mir noch Bilder der zugefrorenen Fulda in Erinnerung. Da konnte man über Wochen auf der dicken Eisdecke Schlitten fahren und Schlittschuh laufen. Das war im Winter 1928/29 ein alltägliches Freizeitvergnügen. Ein besonderes Erlebnis war auch die Fahrt eines Autos über den zugefrorenen Fluss. Die tiefste Temperatur wurde im Februar 1929 mit minus 23,1 Grad gemessen.
Bei einem Winter mit derartigen Kältegraden blieb das nächste Naturereignis nicht aus. Das Eis war in der langen Frostperiode inzwischen 50 und 70 Zentimeter dick geworden. Damit das kommende Hochwasser nicht zur Überschwemmungskatastrophe führte, ließ die Stadtverwaltung Anfang März aus Bremen einen Eisbrecher kommen. Man stelle sich vor, was das für ein Erlebnis für uns Kinder war, wenn 50-70 cm dicke Eisschollen gebrochen und dann mit Getöse den Fluss hinunter schwammen.
An einem Mangel an Abwechslung konnten wir uns in der Unterneustadt sowieso nicht beschweren, dafür sorgten auch die jährlichen Messen auf der Leisterschen Wiese. Der Eintritt für Kinder war frei, Karussell fahren konnte man für einen Fünfer oder einen Groschen. Erwachsene mussten für den Besuch auf der Messe bezahlen. Im Sommer ging es dann an die Fulda, dort lernte ich auch mit einer geschlossenen Maggi Dose auf dem Rücken, an der rechts und links ein Armriemen angebracht war, das Schwimmen. Eine Abwechslung war auch der Besuch im städtischen Flussschwimmbad, das im Mai 1923 eröffnete wurde, allerdings musste dafür immer ein Obolus erbracht werden. Mit der Eröffnung des ersten städtischen Hallenbades 1930 in der Leipziger Straße, ging es bis 1933 jeden Samstag in die Badeabteilung zum Baden und Duschen. Für das Benutzen des Schwimmbeckens fehlte meist das Geld.
1932 wurde ich von Pfarrer Georg Reiß in der Unterneustädter Kirche konfirmiert, damals wurden noch Mädchen und Jungen getrennt eingesegnet. In der großen Kirche, mitten auf dem Unterneustädter Kirchplatz, hatten knapp über tausend Personen Platz. Bis zur Zerstörung im Oktober 1943, zählte die Unterneustädter Kirchengemeinde, mit über elftausend Seelen zu einer der größten evangelischen Gemeinden in Kassel.
Mit dem Umzug meiner Eltern 1933 in die Grillparzerstraße 77 (Fasanenhof) ging auch meine Kinderzeit im Dörf`chen zu Ende. Der nächste Lebensabschnitt begann, wie für die meisten Jungen in meinem Alter, mit der Vereinnahmung in die Hitlerjugend. In der Ortsgruppe Wesertor (der Fasanhof gehörte zum Stadtteil Wesertor) kann ich mich noch an unseren Gruppenleiter erinnern, den sie „Bübchen” nannten.
Von 1934 bis 1937 trat ich meine Lehre, als Industrie-Kaufmann bei der Firma Salzmann & Comp. in Bettenhausen an. Bis zum Einzug in den Arbeitsdienst am 1.4.1939, verbrachte ich die kommenden Jahre in der Firma als kaufmännischer Angestellter. Noch im selben Jahr, im Dezember 1939, kam meine Einberufung zur Wehrmacht und ich wurde zur berittenen Artillerie abkommandiert.
Am 3. Oktober 1943 wurde das Haus meiner Eltern in der Grillparzerstraße bei einem Bombenangriff stark beschädigt. Ich war zu dieser Zeit in Frankreich stationiert und bekam auf Grund dieses Vorfalles Heimaturlaub. Noch zu Hause erlebte ich den schweren Bombenangriff am 23. Oktober 1943 in der Gaststätte Rivoir am Katzensprung, in der Weserstraße. Ich hatte mich dort mit meinem Freund verabredet, um bei einem Glas Bier unsere Erlebnisse der letzten Jahre auszutauschen. Vom plötzlichen Bombenalarm überrascht, mussten wir in den Luftschutzraum im Keller des Hauses Schutz suchen. Glücklich die Bombardierung unversehrt überstanden zu haben, stockte mir beim Anblick der Zerstörung im gesamten Umfeld, der Atem. Die Weserstraße war nicht wieder zu erkennen, Trümmer über Trümmer bedeckten die Straße. An ein Durchkommen zur Grillparzerstraße war überhaupt nicht zu denken. Ich musste mir einen Weg über die Schützenstraße und dann über die Ysenburgstraße in Richtung Fasanenhof suchen. Gott sei Dank war das Haus meiner Eltern diesmal verschont geblieben, leider musste ich aber schon am 1.11.1943 wieder zu meiner Einheit zurück.
Zum Kriegsende im April 1945 konnte ich glücklicher Weise sofort bei meinen Eltern wieder ein Zuhause finden. Nachdem ich kurze Zeit Arbeit bei der KMK (Kurhessiche Milchwerke Kassel) gefunden hatte, konnte ich 1949 wieder bei der Firma Salzmann & Comp. in Bettenhausen anfangen. Nach meiner Heirat am 12. Juli 1947 zogen wir, meine Frau und ich in die Goldbergstraße und später 1955 nach Rothwesten. Aus meiner Ehe gingen zwei Kinder, ein Mädchen und ein Junge, hervor. Mit dem Konkurs der Firma Salzmann & Comp. musste ich zum 31.12.1974 die Firma verlassen und fand für zwei Jahre bei der Firma Fröhlich und Wolf wieder Arbeit. Mit 60 Jahren ging ich dann 1978 in Rente."
Text: Eduard Ress
Editor: Gerhard Böttcher, September 2012
Bilder:
- Eduard Ress Konfirmation 1932 und Haus Leipziger Straße 29, 1944
- Archiv Gerhard Böttcher, Kassel
- Stadtarchiv Kassel
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Kurzbeschreibung
Eduard Ress erlebte seine Kinderzeit in der Unterneustadt. Er wurde am 13. Januar 1918 in der Leipziger Straße 29 geboren. In der Bürgerschule No. 7 für Jungen, Leipziger Straße 13 wurde er eingeschult und besuchte diese bis zu seinem Wechsel in die Knabenmittelschule. Konfirmiert wurde er in der Unterneustädter Kirche. Seine Schilderungen geben ein Zeitbild aus dem Dörfchen wieder, dass sonst unwiderruflich verloren ginge.
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