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Die Kasseler Mundart oder die "Fullebriggen Sprooche"
- Autor: Gerhard Böttcher
- Zeit: 1850-1899
- Ort: Am Holzmarkt
- Vom: 11.09.2013
- Themen: Stadtteilkultur, Gaststätten
Der engste Raum der Kasseler Mundart entwickelte sich am Altmarkt über die Brücke hin zum "Dörfchen" , wie man liebevoll auch die ahle Neistadt( alte Neustadt ) nannte. Der Holzmarkt damals der unmittelbare Lebensmittelpunkt der Unterneustadt, mit seinen vielen Kneipen in den angrenzenden Straßen, war eine unerschöpfliche Quelle Kasseler Mundartdichtung.
Vielleicht waren sich die Kasseler Bürger, auch nach Einzug der Preußen 1866 und der Abdankung von Kurfürst Wilhelm II, ihres Heimatgefühles und der unverwechselbaren Mundart bewusster geworden. Mitte des 19. Jahrhundert. bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhundert entwickelte sich in der Unterneustadt eine Atmosphäre sprachlicher Urwüchsigkeit. Die Struktur der Bevölkerung, Arbeiter, kleine Handwerker und Geschäftsleute, waren der Nährboden der Fullebriggen Sprooche. Sie wurde im Lauf der Jahrzehnte durch ihre Protagonisten bewusst verwendet. Henner Pfiffendeckel (Philipp. Scheidemann 1. Ministerpräsident der Republik) wohnte in der Leipziger Str. 6 Ecke Holzmarkt. Ein paar Häuser weiter wohnte Karl Branner (später Oberbürgermeister in Kassel), seine Eltern hatten eine Bäckerei. In seiner Jugendzeit zog er mit Freunde über die Fuldabrücke um in Peters Bierlokal (Ferdinand Peter setzte im Monat 200 Hektoliter Bier um) musizierend sein Taschengeld aufzubessern.
Aber auch in der Gastwirtschaft beim Wirt Zahn (Bierbrauer und Küfermeister), aus dieser Familie ging die Baufirma August Zahn KG. hervor, spielte die Musik. Hier tagte die Stammtischgesellschaft "Dörfchen", aus den ihr zugehörigen Theatermusikern formiert sich eine Kapelle, deren Bierabende "Manchester-Abende" stadtberühmt waren. Mit ein paar Schritten um den Holzmarkt und den Unterneustädter Kirchplatz war man in der nächsten Wirtschaft und das waren mindestens ein Dutzend. Beim Sumser, so wurde der Inhaber des "Weißen Schwan" genannt, tagten die Wasserwehrmitglieder "Schwimmi" August Gerhardt, Metzgermeister Börner, Inspekteur Steinbach, Kohlen-Dülfer und die Gärtner Gerhardt und Henner Röse. Nach jedem Hochwassereinsatz wurde dann mit einem Fass Bier die "Wasserkirmes" nochmals begossen.
Nicht nur die Wasserwehr war hier zu Hause sondern hier hatten auch die vielen Gärtner der Unterneustadt ihren Vereinssitz. Am Handwerker Stammtisch gehörten die Dachdecker Lasch, Klempnermeister Vogt und die Schreinermeister Becker genannt "Sargmagazin" und Schreinermeister Helle genannt "Flattergalopp" zu den Gästen .
Ganz anders entwickelte sich die Stammtischgesellschaft in der Gastwirtschaft "Zum Wilden Wasser", am Unterneustädter Kirchplatz 6. Hier entstand der Raabe-Stammtisch, deren Mitglieder wie Johann Lewalter (Komponist und Volkskundler), die Maler Wilhelm Thielemann und Theodor Matthei, die Raabe Brüder u. a. eine rege Diskussionsrunde ins Leben riefen. Das Zusammenleben unterschiedlicher Gesellschaftsgruppierungen trug nicht unwesentlich zum liebevollen und vertrauten Begriff des Dörfchens bei. Hier bestand auch das Vereinslokal des Fußballvereines CSC 03, die Kasseler Schiedsrichtervereinigung wurde hier gegründet und die Tauben- und Kaninchenzüchter waren hier zu Hause.
Ein echtes Kind der Unterneustadt war auch Hermann Elsebach, 1883 in der Unterneustadt geboren, bekannt unter seinem Pseudonym "Christejahn Duckefedd", besuchte er die Bürgerschule 7 der Unterneustadt. Die Schule genannt "Barwes-Gynasium“ (wahrscheinlich weil die Kinder vom Waisenhaus in ihrer blau weiß gestreiften Einheitskleidung barfuß zur Schule kamen). Hermann Elsebach, ausgebildet als Bariton sang zur Laute und gründete mit Friedrich Junghenn und dem Zisselvater Willi Schmidt 1911 die "Freie Literarische Vereinigung". Sie wandelte sich noch im selben Jahr in "Kasseler Laienbühne" und in der Folge zum "Wehlheider Hoftheater" unter Schmidt`s Leitung um. Elsebach veröffentlichte Mundartgedichte in Tageszeitungen. 1910 erschien unter dem Pseudonym Christejahn Duckefedd sein Mundartband "Us minnen Dagebuche" im Verlag von Carl Vietor.
Irgendwie kannten sie sich alle untereinander, Georg Fladung Landschaftsmaler und Karikaturist, geboren 1880 in der Leipziger Str. 25 (Unterneustädter Kirchplatz), war befreundet mit Paul Heidelbach, Bibliothekar und Archivar an der Murhard Bibliothek und dem Kunstmaler Wilhelm Lüttebrandt. Am Unterneustädter Kirchplatz wurde auch 1833 Gottlob Theuerkauf geboren. Der Aquarelllist besuchte fünf Jahre die Kunstakademie, war später Privatdozent und ab 1895 Professor an der TH Berlin-Charlottenburg. Auch als Komponist von Liedern und Orchesterstücken wurde er bekannt. Im Alter zog er wieder nach Kassel und wurde auf dem Unterneustädter Friedhof am Pulvermühlenweg 1911 begraben.
Viele dieser in der Stadtgeschichte und darüber hinaus bekannten Persönlichkeiten haben am Holzmarkt und dem Unterneustädter Kirchplatz gewohnt. Ihr Interesse an der Geschichte ihrer Heimatstadt das Sammeln und Sichten all dessen was die Volksseele offenbarte, begründete eine weitere Wissenschaft, die Volkskunde. Einer dieser Vertreter der heimischen Mundart der Sprachsammler und Wörterbuch Verfasser August Grassow, zusammen mit dem 60 Jahren jüngeren Historiker und ehemaligen Stadtarchivar Dr. Robert Friderici, wohnte er auf derselben Etage im Haus Leipziger Straße Nummer 15.
Eine dieser Sprachschöpfung der Unterneustädter machte um den Unterneustädter Kirchplatz die Runde. Hier befand sich die Kirche mitten auf dem Platz, die Bürgerschule 7 und 8, getrennt nach Jungen und Mädchen, genannt "BG" Barwes-Gymnasium (Barfüßer-Gymnasium), das Gefängnis "die Elwe" nach der Hausnummer Leipziger Str.11. Bezeichnet sind auch die Baudaten. Das Gefängnis wurde 1880 und die Schule 1890 gebaut. Die Schule, Kirche und Gefängnis bildeten "die Dreieinigkeit", im Volksmund war das der PLATZ DER DREIEINIGKEIT: mit der Schule der Stätte der Liebe, der Kirche der Stätte des Glaubens und dem Gefängnis der Stätte der Hoffnung.
Am Unterneustädter Kirchplatz befand sich auch der Gasthof "Zum Kurfürst" Leipziger Str. 14. Hier wohnten zur Untermiete die bekannten Kunstflieger Abelmann und Schmigulski, der bei einem Flugtag auf dem Forst am 12. Mai 1912 vor der Zuschauertribüne mit seiner Maschine abstürzte und starb. Mit dem Gasthof "Zum Kurfürst" verbindet sich auch eines der vielen tragischen Ereignisse der vom Hochwasser immer wieder gebeutelten Unterneustadt. Um die Jahreswende 1924/25 wurden bei einer Silvesterfeier 150 Gäste im Saal vom Hochwasser überrascht. Ein Teil der Gäste konnte nicht mehr trockenen Fußes nach Hause gelangen, so dass sie mit Booten ins heimatlichen Gefilde gebracht werden mussten. Wie in anderen Unterneustädter Gaststuben verkehrten auch hier viele Vereine und Stammtische. Hier fanden Feste und Familienfeiern statt, denn in den meist kleinen Wohnungen dieses Stadtteiles war für solche Ereignisse kaum Platz. Bei diesen Anlässen wurde die Fullebriggen Sprooche gepflegt.
Wie der Wind die Fullebriggen Sprooche über die Wilhelmsbrücke in die ganze Stadt wehte, so machte der Feuersturm am 22. Oktober 1943 alles dem Erdboden gleich, zurück bleibt die Erinnerung.
Text: Gerhard Böttcher
Editor: Erhard Schaeffer, Juli 2013
Quellen:
- Archiv der Stadt Kassel
- Murhardsche Biliothek der Stadt Kassel
- Stadtmuseum Kassel
- Kasseläner Klee Hans Römhild
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Kurzbeschreibung
Der engste Raum der Kasseler Mundart entwickelte sich am Altmarkt über die Brücke hin zum "Dörfchen" , wie man liebevoll auch die ahle Neistadt( alte Neustadt ) nannte. Der Holzmarkt damals der unmittelbare Lebensmittelpunkt der Unterneustadt, mit seinen vielen Kneipen in den angrenzenden Straßen, war eine unerschöpfliche Quelle Kasseler Mundartdichtung.
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