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Wohin mit den Kindern lediger Mütter?
- Autor: Falk Urlen
- Zeit: 1750-1799
- Ort: Unterneustadt
- Vom: 16.02.2014
- Themen: Stadtentwicklung, Kommunale und staatliche Einrichtungen
Der Verfasser nimmt den Beitrag über den Kindsmord am Wahlebach, und nachdem er dazu weitere Literatur fand, zum Anlass, das Kasseler „Accouchier- und Findelhaus“ näher zu beleuchten (Accoucher heißt im Französischen Entbinden oder Gebären).
1763 war in der Unterneustadt ein Zufluchtsort für unverheiratete Mütter geschaffen worden, das „Accouchier- und Findelhaus". „Liderliche Dirnen“, die im Rahmen „wollüstig“ getriebener „Unzucht“ schwanger geworden waren nutzten die Einrichtung aus, gebaren dort ihre Kinder und ließen diese zurück, ohne Furcht auf Strafe haben zu müssen".
Dieses Haus, wie es solche in größeren Städten (Berlin, Göttingen, Wien) auch gab, war auf Anordnung Friedrich II. erstellt worden. Hier sollten "vor allem unverheiratete Frauen aus den Unterschichten ohne Ansehen der Konfession unter ärztlicher Oberaufsicht [ihre Kinder zur Welt bringen] und zugleich von der sonst vorgesehenen Bestrafung befreit werden." Diese Bestrafung war die öffentliche Vorführung, sie war verbunden mit hohen Geldstrafen und evtl. auch mit Auspeitschungen (siehe Startbild). Die Befreiung von diesen Strafen wurde aber erst beschlossen, nachdem sich zu wenige Frauen im Gebärhaus meldeten.
Es ging hier eigentlich gar nicht um das Wohlergehen und die Pflege der Kindsbetterinnen, sondern in erster Linie darum, Objekte für die Ausbildung von Studenten, jungen Ärzten und Hebammen zu haben. Die Geburt wurde gezeigt, die Frau hatte ein Handtuch über dem Gesicht. Sie wurden aber auch vorher zur Ausbildung vaginal untersucht. Aufgrund dessen bekamen einige Frauen ihr Kind lieber im Straßengraben. Ein weiterer Grund war auch, die relativ hohe Kindsmordrate zu reduzieren.
Dieses Gebärhaus war gleich neben dem Waisenhaus untergebracht, konnte aber 1777 in einen Neubau in die Bettenhäuser Straße 22 umziehen. Die Verwaltung wurde mit der des Waisenhauses zusammengelegt, zu seiner Unterhaltung ließ der Landgraf eine Lotterie gründen. 24 Jahre lang war Prof. Dr. Georg Wilhelm Stein Leiter der Anstalt und begleitete in dieser Zeit ca. 3000 Geburten, drei Mal nahm er Kaiserschnitte an lebenden Frauen erfolgreich vor.
Die schwangeren unverheirateten Frauen mussten sich drei Monate vor der Niederkunft bei der Direktion registrieren lassen. Voraussetzung war, dass diese Frauen dem Untertanenverband angehörten und ein Armutszeugnis (die Heimatgemeinde bezeugt die Mittellosigkeit) hatten. Danach erhielten sie nach der Aufnahme freie Wohnung, Holz und Licht, medizinische Betreuung und Arznei, dazu einen halben Taler zur Verköstigung und bei ihrem Weggang nach der Entbindung einen Gulden, um sich Nahrung kaufen zu können. Als Gegenleistung halfen sie bei der Hausarbeit, nähten, flickten oder spannen Flachs oder Wolle und waren natürlich lebende Ausbildungsobjekte.
Dennoch war die Sterblichkeit bei Müttern und Kindern sehr hoch, auch gab es immer noch viele Kindsmorde. Mütter, die überlebten, brauchten keine öffentliche Kirchenbuße zu leisten und überließen ihre Säuglinge in der Regel dem Findelhaus. „Im Falle des Todes der Gebärerin oder ihres Kindes war die Fundation angewiesen, die Beerdigungskosten zu übernehmen, es sei denn, die ‚Geburth‘ würde ‚zur Anatomie verlaget'.
Das Findelhaus hatte einen Drehkasten, heute würden wir sagen eine „Babyklappe“, in den ledige Mütter ihre Kinder unerkannt einlegen konnten, zusammen mit einem Zettel ihrer Wünsche, z. B. den Namen des Kindes. Ammen kümmerten sich um die Kinder (10 in einem kleinen Raum mit 20 Säuglingen), die im Alter von einem Jahr dann zu Pflegefamilien kamen, die dafür entsprechende Mittel erhielten. Mit 10 Jahren wurden sie im Waisenhaus unterrichtet, um auf eine spätere Gesindetätigkeit oder auf den Militärdienst vorbereitet zu werden.
Aber auch hier war die Sterblichkeit sehr hoch, kaum eines der Kinder wurde über 14 Jahre alt. Vanja bekam heraus, dass zwischen 1763 und 1781 von 740 Kindern nur 334 das siebente Lebensjahr und nur 10 das 14 Lebensjahr erreichten. 1781 war nur noch ein Siebentel aller aufgenommenen Kinder am Leben. Vielleicht lag es auch daran, dass häufig kranke Kinder in die Klappe gelegt wurden. Es kamen auch „liderliche Dirnen“ aus dem „Ausland“ (Kurfürstentum Hannover) mehrfach über die Grenze, um die Früchte ihres „zuchtlosen Lebens“ zu beseitigen. 1781 wurde aus diesen Gründen die Babyklappe wieder abgeschafft. 1787 wurde dieses Findelhaus endgültig geschlossen, da die medizinischen Kapazitäten (Dr. Stein) und auch die Anatomie in die Universitätsstadt Marburg übersiedelten.
Autor und Editor: Falk Urlen, März 2014
Literatur:
- Vanja, Christina: Das Kasseler Accouchier- und Findelhaus 1763 - 1787: Ziele und Grenzen "vernünftigen Mitleidens" mit Gebärenden und Kindern, in: Die Entstehung der Geburtsklinik in Deutschland 1751 - 1850, Göttingen, Kassel, Braunschweig, Hsg.: Jürgen Schlumbohm, Claudia Wiesemann, Göttingen 2004, S. 99
- Institutionen aufgeklärter Wohlfahrt und mittelalterlicher Karitas, in: Kassel im 18. Jahrhundert, Hsg.: Heide Wunder, Christina Vanja, Hermann Wegner, Kassel 2000,
- Vgl.: Antje Brockmann und Daria Reichard: Schwangerschaft und Geburt im "Zangengriff" der Medizin, in Kolip, Petra (Hrsg.): Weiblichkeit ist keine Krankheit, Weinheim und München 2000, S. 74
- Startbild: Auspeitschung lediger Mütter, Radierung 1782 von Daniel Chodowiecki, in Metz-Becker, Marita: Der verwaltete Körper, Die Medikalisierung schwangerer Frauen in den Gebärhäusern des frühen 19. Jahrhunderts, Frankfurt/Main, New York; 1997, S. 187
- Bild der Skelette: Metz, Becker a. a. O., S. 87, "Zwei Skelette von unter der Geburt verstorbenen, ausgetragenen Zwillingen, das Skelett eines Knaben, eines Mädchens"
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Kurzbeschreibung
Der Verfasser nimmt den Beitrag über den Kindsmord am Wahlebach, und nachdem er dazu weitere Literatur fand, zum Anlass, das Kasseler „Accouchier- und Findelhaus“ näher zu beleuchten (Accoucher heißt im Französischen Entbinden oder Gebären).
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