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Erinnerungen an die Schulzeit in Waldau

Margot Wagner 2006

Margot Wagner, 2006
Foto: Margot Wagner

Margot Wagner, Jahrgang 1935, bezeichnet sich selbst als alte Kasselanerin, obwohl in ihrer Geburtsurkunde als Geburtsort der Name Waldau steht. Sie ist durch die Eingemeindung Waldaus 1936 zur Kasselanerin mutiert. Das Geburtshaus im Wahlebachweg , in dem sie noch heute wohnt, steht laut Katasteramt wie eh und je auf einem Flurstück von Waldau. Die Autorin dieses Beitrages liest Lyrik, Kurzgeschichten und Prosa, die sie selbst verfasst. Sie ist Mitglied der AWO-Literaturagentur.

Frühreif (bedingt durch die Geschwisterschar) kam ich schon vor dem 6. Lebensjahr in die Waldauer Schule. Der sogenannte „Ernst des Lebens“ begann dann auch für mich, obwohl ich mich schon sehr auf die Schule gefreut hatte. Nach einer kurzen „Schonzeit“ mussten auch wir Erstklässler an dem morgendlichen Schulappell teilnehmen. Beim berüchtigten „Hitlergruß“ sollten wir beim Absingen des „Groß-Deutschland-Liedes“ immer minutenlang den rechten Arm hochheben. Der Schuldirektor nahm jeden Morgen diese dressierte Übung ab und schrie, wenn unser Gesang vielleicht zu verschlafen oder kleinlaut war. Ich hatte einmal, wie andere kleine Mädchen auch, den erhobenen rechten Arm mit der linken Hand abgestützt, da bekam ich kleine Maus von diesem Riesen von Kerl, der in Knobelbechern und brauner SA-Uniform und durch sein Geschrei für uns ohnehin schon ein Kinderschreck war, eine gewaltige Ohrfeige, dass ich gar nicht wusste, wie mir geschah. Ich spüre noch heute in der Erinnerung den brennenden Schmerz auf Wange und Ohr. Aber Weinen war damals nicht angesagt, denn es hieß zu dieser Zeit ja: "EIN Germane kennt keinen Schmerz." Eine Tafel am heutigen Bürgerhaus, die vom Geschichtskreis Waldau gestiftet wurde, erinnert an die Alte Schule.

Erinnerungstafel an die Alte Schule Waldau
Erinnerungstafel an die Alte Schule Waldau  Foto: Erhard Schaeffer, Kassel

Mit harter Disziplin sollten wir zarten Pflänzchen zu „Herrenmenschen“ gedrillt werden. Das Wort „Untermenschen“ hörte ich ein, zwei Jahre später auch. Was ich dazu aus den täglichen Radiomeldungen vernahm, bedeutete, dass diese Menschen wohl in den Osten der Welt verbannt werden sollten. Sibirien wurde in diesem Zusammenhang öfter genannt – für mich ein ganz neues Wort. Aber der Osten war auch da, wo meine Brüder 18 und 21 Jahre alt, mit dem Einzugsbefehl in die Deutsche Wehrmacht, uns in der Heimat verteidigen sollten. Um so aufmerksamer verfolgte ich ihre Berichte in den Feldpostbriefen. Der jüngere Bruder schrieb 1943 hellsichtig, dass er wohl bald in Sibirien Steine klopfen müsse, so schlecht stand es bereits damals an der Front in der Ukraine. Der blutjunge Soldat ahnte es die Herren Generäle wollten es nicht sehen und gehorchten weiter einem dummen, menschenverachtenden und vernichtenden Regime, dass sich gut geschützt in Bunkern feige verkroch und so viele Menschen sinnlos mordete. Mein jüngerer Bruder kam übrigens nie aus dem Krieg zurück, er gilt als vermisst.

Kirchenturm Waldau 1938
Waldauer Kirche ca. 1938  Foto: Arbeitskreis der Ev. Kirchengemeinde Kassel-Waldau

Inzwischen waren die Bombenangriffe (Sommer 1943) so massiv geworden, dass alle Schulen in Kassel geschlossen wurden, so auch die Waldauer Schule. Zuvor war schon die Waldauer Kirche stark von den Bomben zerstört worden. Diese Nachricht, dass auch das Gotteshaus nicht verschont worden war, verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch den ganzen Wohnbereich. An die Bombardierung der in der Nähe ansässigen Fabriken wie Junkers Flugmotoren Werke und auch die Fieseler Flugzeughersteller (Fieseler Storch ist bis heute bekannt) war man leidvoll gewöhnt, denn viele Nachbarhäuser waren damals bereits total zerstört. Unsere schöne Schule Waldau blieb ziemlich unversehrt und ist auch jetzt noch gut erhalten.

Die Schulkinder wurden damals aus den Städten durch die so genannte „Kinderlandverschickung“ herausgebracht. Es hieß Abschiednehmen von vertrauten Schulfreunden, was mich ganz schön traurig stimmte. Nur dem ollen Nazi-Rektor trauerte wohl niemand von uns nach. Anderen, Gott sei Dank, richtig liebevollen Kindererziehern, wie z. B. dem vertrauenerweckenden Lehrer Schlesinger gedenke ich auch jetzt noch sehr gern.

Er war ein gemütlicher „Herr Lehrer“. Bei ihm hatten wir in kürzester Zeit als Schulanfänger zunächst die Sütterlin-Schrift gelernt und kurze Zeit später die lateinischen Buchstaben. Bei ihm lernten wir auch die guten alten Volkslieder wie „Im Märzen der Bauer...“, „Schöner Frühling komm doch wieder“, „Alle Vögel sind schon da“ und auch das wunderschön vertonte Heinrich-Heine-Gedicht „Leise zieht durch mein Gemüt liebliches Geläute, klinge kleines Frühlingslied, kling` hinaus ins Weite“.

Das zuletzt genannte Lied liebe ich noch heute als eines der innigsten Frühlingslieder. Und bei dem „Alle Vögel sind schon da“ versuchten die Erwachsenen abends sarkastische Scherze abzuleiten, wenn die Bomber als eiserne Vögel wieder am nächtlichen Himmel dröhnten und auch im Sommer die so genannten „Christbäume“ für zu treffende Ziele am Himmel heimleuchteten.

Übrigens das gute und alte Waldau findet man auch jetzt noch hier und da in seinen schön renovierten Bauernhäusern und Gasthöfen und in der alten Kirche, die im alten Stil neu aufgebaut worden ist. Man kann wieder singen und feiern und danken im Gebet, dass nun schon seit 60 Jahren in Westeuropa Frieden herrscht.

Bürgerhaus Waldau
Bürgerhaus Waldau in dem ehemaligen Schulgebäude  Foto: Erhard Schaeffer 2014

Die alte Waldauer Schule dient heute als Bürgerhaus allen Veranstaltungen des Stadtteillebens und ist eine Begegnungsstätte für viele Menschen aus allen Ländern der Welt, die zum Teil als Flüchtlinge aus ihren Heimatländern in Waldau Zuflucht gefunden haben. Nicht zuletzt sollten wir auch unsere Zivilcourage dort einsetzen, wo Bedrohung und Gewalt oder rassistische Tendenzen auflodern. Dagegen steht mein eigenes negatives Erinnern, es macht mich stark.

Text: Margot Wagner, 2006

Editor: Erhard Schaeffer, Dezember 2014

Quelle: Kassel Privat, AWO Stadtteilzentrum Niederzwehren, 2006

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Kurzbeschreibung

Margot Wagner, Jahrgang 1935, bezeichnet sich selbst als alte Kasselanerin, obwohl in ihrer Geburtsurkunde als Geburtsort der Name Waldau steht. Sie ist durch die Eingemeindung Waldaus 1936 zur Kasselanerin mutiert. Das Geburtshaus im Wahlebachweg, in dem sie immer noch heute wohnt, steht laut Katasteramt wie eh und je auf einem Flurstück von Waldau. Die Autorin dieses Beitrages liest Lyrik, Kurzgeschichten und Prosa, die sie selbst verfasst. Sie ist Mitglied der AWO Literaturagentur.

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