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Vom obdachlosen Hausbesetzer zum anerkannten Hausmeister
- Autor: Falk Urlen
- Zeit: 1953
- Ort: Junkerscamp "Lettenlager"
- Vom: 12.10.2010
- Themen: Stadtteilkultur, Menschen erzählen
Helmut Kleinert erzählt, wie er als gut verdienender VW-Arbeiter dennoch als Obdachloser ins "Lettenlager" eingewiesen wurde, wie er an der Besetzung der "Belgier-Siedlung" teilnahm und schließlich im Haus Forstbachweg (auf dem Gelände des ehemaligen Lettenlagers) Hausmeister wurde.
Seitdem meine Eltern in Kassel nach der Flucht aus Schlesien eine neue Heimat gefunden hatten, wurde ich ab 1953 bei der damaligen Herkules-Brauerei zum Bierbrauer und Mälzer ausgebildet, 1958 heiratete ich, wir bekamen bald Nachwuchs und schließlich hatte meine Frau fünf Jungen das Leben geschenkt.
Nachdem ich bei VW eine gut bezahlte - leider berufsfremde - Arbeit bekommen hatte, zogen wir in eine große Wohnung der GEWOBAG in Oberzwehren. Bei Volkswagen arbeitete ich 11 Jahre lang.
Bei der Wohnungsbaugesellschaft gab es bald Klagen über unsere Kinder, als damals noch siebenköpfige Familie galt man fast schon als asozial. Wir bekamen eine Räumungsklage und waren plötzlich, obwohl ich gut verdiente, obdachlos. Mit fünf Kindern bekam man einfach keine Wohnung mehr.
So wurden wir in das sog. Lettenlager eingewiesen, in der Baracke F erhielten wir Appartement von ca.70 qm. Eigentlich war das eine schöne Wohnung, in einer Steinbaracke wohnten zwei Familien. Wir hatten eine Waschkaue mit leider nur kaltem Wasser, man konnte sich aber waschen, später habe ich mir noch eine Dusche gebaut. Von dort aus kam man in eine schöne große Küche, dahinter gab es noch ein kleineres Zimmer und ein größeres Wohnzimmer. Wie das damals so üblich war, strichen wir die Wände mit weißer Kalkfarbe, auf die mit einer farbgetränkten Gummirolle Muster aufgetragen wurden.
Die Wohnung lag an der Söhrebahntrasse, diese war aus Sicherheitsgründen eingezäunt. Jeder hatte hinter dem Haus eine kleine Gartenparzelle, die aber nicht direkt zugänglich war. Über eine kleine Rampe konnten die Kinder durch das Zimmerfenster in den Garten gelangen. Im Grunde war das hier eine Idylle, die problematischen Familien wohnten auf der anderen Seite, dort, wo dann später die Häuser der Heinrich-Steul-Straße gebaut wurden. Vorne am Eingang, wo heute das Haus-Forstbachweg und der Torpfosten stehen, war ein kleines Einkaufszentrum mit Fleischerei, Bäckerei, Lebensmittelgeschäft, Friseursalon und weiteren Läden, wo man die Sachen des täglichen Bedarfs kaufen konnte. Hier konnte man sogar "anschreiben" lassen.
Obwohl ich für Lagerverhältnisse sehr gut verdiente und es damals noch kaum Kindergeld gab, sammelten sich im Laufe der Zeit dennoch Schulden an. 1973 wurden von VW Auflösungsverträge angeboten, darin sah ich die Chance, auf einen Schlag meine Schulden tilgen zu können. Meine Frau war auch dafür und ich kündigte, ich wusste aber schon, dass ich bei Binding jederzeit wieder eine Arbeit als Bierbrauer bekommen würde.
Eines Tages kam dann die Sozialarbeiterin Klewe zu mir, mit der sich meine Familie angefreundet hatte, und sagte: "Du Kleinert, die Belgiersiedlung im Auefeld mit ihren schönen Räumen steht leer, lass uns doch mal hochfahren und sie mal ansehen!" Gesagt, getan, ich drückte dort einfach so auf eine Kellertürklinke, und siehe da, die Tür war offen. Eine Wohnung vom Feinsten. Von einem Freund liehen wir uns einen VW-Bus und zogen einfach so mit der ganzen Familie in diese Wohnung ein, natürlich ohne Genehmigung, im Grunde aber auf Vorschlag und Billigung der Sozialarbeiterin. Ich sprach auch mit anderen Bewohnern des Lagers, viele trauten sich erst nicht, aber dann waren doch 10 - 12 Häuser der Belgier-Siedlung von uns besetzt. Diese Aktion wurde von der Polizei bemerkt und weitere Zuzüge wurden verhindert. Wir machten uns die Wohnungen richtig schön zurecht und genossen die zwei Bäder in den Häusern. Ich brachte in dem VW-Bus morgens die Kinder nach Forstfeld zur Schule. Wir waren keine Kriminellen, natürlich war das Unrecht, was wir machten, aber in dieser Notsituation habe ich das nicht als Vergehen oder Verbrechen gesehen. Hier im Lager herrschte beengter Wohnraum und dort standen ganze Häuserzeilen, die dem Bund gehörten, leer. Man stellte uns dann recht bald Strom und Wasser ab. Die Besetzer machten mich zu ihrem Sprecher. Nachdem sich die damalige Jugendamtsleiterin Anneliese Wolf über die Situation in der Belgiersiedlung informiert hatte, wäre es auch ihr Wunsch gewesen, dass wir hier hätten bleiben können. Wir besuchten darauf hin Oberbürgermeister Karl Branner, sein Referent war damals Hans Eichel. Strom und Wasser wurden danach wieder angestellt. Das erkenne ich diesen Männern heute hoch an, sie haben unsere Not gesehen und uns nicht als Schwerverbrecher behandelt. Eines Tages kam dann ein Reporter des Nachrichtenmagazins "Spiegel" und fragte mich nach den Zuständen in den Baracken am Forstbachweg.
"Ganz so war's nicht, wie es der Spiegel dann schrieb, es gab in den Baracken keine Ratten, es war kein Fußboden zernagt, die Dächer waren nicht undicht. Klar, es waren Teerdächer, wenn es einmal durchregnete, wurde von der Stadt sofort repariert. Natürlich suchte meine Frau die Kinder nach dem Baden ab, aber Läuse hatte keines, da dramatisierte der Spiegel etwas".
In der Belgiersiedlung kam es, wie es kommen musste, wir erhielten von der Bundesvermögensverwaltung einen Räumungsbefehl. Von einem Mitarbeiter des Rathauses erhielt ich das Angebot, in eines der Häuser einzuziehen, da ich ja ein festes Einkommen hatte, man könnte später auch über den Erwerb eines der Häuser nachdenken. Ich sprach mit meiner Frau und die sagte sofort: "Nein, das geht nicht! Erst machst Du Rädelführung und dann bleibst du als Einziger dort wohnen, du hättest Dich dann bereichert und könntest dich hier nirgends mehr sehen lassen". Am nächsten Tag lehnten wir das Angebot ab. Zurück ins Lettenlager kam ich aber nicht mehr, ein Zweifamilienhaus in der Königinhofstraße wurde mir dann angeboten. Jetzt hatte ich es auch nicht mehr weit zur Arbeit.
Eines Tages fragte mich Anneliese Wolf, ob ich nicht eine Arbeit als Hausmeister suchte. Man brauchte jemanden für das neu gebaute Haus Forstbachweg, diese Stelle bekamen leider zwei andere, weil ich keinen artverwandten Beruf hatte. Nach einiger Zeit traf ich am Heiligen Abend Anneliese Wolf zufällig, sie fragte mich, ob das mit der Hausmeisterstelle geklappt habe, ich verneinte traurig. Sie sagte nur: "ja, ja, ja". Bald darauf erhielt ich einen Anruf, dass ich gleich ins Rathaus kommen sollte, mir passte das eigentlich nicht, einfach so zitiert zu werden. Dennoch fuhr ich dorthin, der Sachbearbeiter erklärte mir, dass sich die Frau Wolf für mich starkgemacht hätte. Ich bekam die Stelle mit dem Hinweis, dass ich, wenn ich mich nicht bewähre, in einem halben Jahr wieder "rausflöge". Ich meinte: "Das ist doch nur fair" und nahm das Angebot an. Ich konnte dann gleich am 1. Januar anfangen. Meine Vorgänger waren mit den Jugendlichen nicht so recht fertig geworden. Mich kannten die Jugendlichen alle schon aus dem Lettenlager, ich hatte mit denen gar keine Probleme, ich kannte ihre Sprache und sie vertrauten mir. Mir machte die Arbeit großen Spaß. Nach einem halben Jahr erhielt ich die Nachricht, dass ich einen Arbeitsvertrag bekomme. Ich war froh und auch stolz, denn für mich war das eine Karriere, aus einem Obdachlosen wurde ein anerkannter Hausmeister am gleichen Ort, wo er einmal in einer Obdachlosenbaracke untergebracht worden war.
1995 wurde Helmut Kleinert mit der Verdienstmedaille zum Bundesverdienstkreuz für sein vielfältiges ehrenamtliches Engagement geehrt.
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Kurzbeschreibung
Helmut Kleinert erzählt, wie er als gut verdienender VW-Arbeiter dennoch als Obdachloser ins "Lettenlager" eingewiesen wurde, wie er an der Besetzung der "Belgier-Siedlung" teilnahm und schließlich im Haus Forstbachweg (auf dem Gelände des ehemaligen Lettenlagers) Hausmeister wurde.
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