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Kindheit in der Salzmannstraße

Salzmannstraße 1, 1934, H.Vonjahr

Salzmannstraße 1, 1934
Foto: Heinz Vonjahr

Der Theologe Heinz Vonjahr wurde in der Salzmannstraße in Salzmannshausen 1932 geboren und getauft. Es war seine Heimat, bis er 1961 seine erste Pfarrstelle antrat. Seine Eltern wohnten noch bis 1970 dort, sodass auch seine Kinder diese Heimat noch kennen gelernt haben. In seinen autobiographischen Erinnerungen, - Meine Kindheit im Dritten Reich -, beschreibt er die Kleinkindzeit in seinem Elternhaus.

In der ersten Etage des Hauses Salzmannstraße 1 wohnten wir von Ostern 1934 ab. Das obere Foto zeigt dieses Haus von der Sandershäuser Straße aus im Jahr 1934. Im Erdgeschoss wohnte das Ehepaar Schmidt, im zweiten Stock Familie Lilienthal. Kurt Lilienthal war wie mein Vater Lehrer an der Bürgerschule 26. Sie hatten eine Tochter Lieselotte, die modisch Lilo gerufen wurde. Zu Lilienthals sagte ich „Onkel“ und „Tante“. Ich ging oft zu ihnen hinauf.

Im Dachgeschoss hatte jede Mietpartei eine Mansarde, einen Abstellraum ohne Ofen, fließendes Wasser und Toilette. In unserer Mansarde stand ein Bett, sodass dort auch einmal Besuch übernachten konnte. Außerdem befand sich dort oben ein geräumiger Trockenboden. Im Vorraum stand Vonjahrs Wäschemangel. Als ich größer war, musste ich deren riesiges Rad drehen, bis ich dachte, die Arme fallen mir ab. n den ersten Lebensjahren war der Raum zwischen den Häuserzeilen meine Welt.

Zur Sandershäuser Straße war sie durch eine Mauer begrenzt. Die einzelnen Haus-Grundstücke waren durch Zäune voneinander getrennt. In der Mitte zwischen den beiden Häuserzeilen stand parallel dazu eine Reihe niedrigerer Gebäude, in dem jede Mietpartei einen „Stall“ hatte. Tatsächlich waren dort Dunggruben eingebaut, sodass man eine Ziege oder ein Schwein hätte halten können. Ich kann mich aber nicht daran erinnern, dass in diesen „Ställen“ Tiere gehalten wurden (außer – in der Kriegszeit – Kaninchen). Für uns war es der Holzstall. Darin standen der Handwagen und Vaters Fahrrad; Gartengeräte wurden hier aufbewahrt, und der Vorrat an Brennholz war vor Regen und Schnee geschützt.n unserer Wohnung lebten wir zu siebt in sechs Zimmern. Damit die Großeltern Gerhold mit in unsere Wohnung ziehen konnten, wurde die ursprüngliche Vierzimmer-Wohnung durch zwei Zimmer aus dem angebauten Nachbarhaus erweitert. Dazu wurden zwei Türen neu gebrochen und der Zugang zum Nachbarflur zugemauert. Dadurch hatten wir sehr viel Platz.

Heinz Vonjahr, Wohnung 1934
Grundriss der Wohnung Vonjahr in der Salzmannstraße 1  Foto: Heinz Vonjahr

Allerdings spielte sich das Familienleben hauptsächlich in der Küche ab. Dort wurde auch im Familienkreis gegessen. Das Wohnzimmer mit dem dunklen Buffetschrank, dem Ausziehtisch und den hochlehnigen Stühlen wurde nur bei besonderen Gelegenheiten benutzt. Das Herrenzimmer mit Vaters Bücherschrank und seinem Schreibtisch durfte ich nur in seiner Anwesenheit betreten. Besonders gemütlich fand ich das Wohnzimmer der Großeltern. Da stand ein Kachelofen, in dessen Ofenröhre Großmutter wintertags manchmal Bratäpfel garte.

Der freie Raum zwischen Haus und Holzstall war mit Gras bewachsen. Er diente allen Mietparteien des Hauses als Trocken- und Bleichplatz für die große Wäsche. An stabilen hölzernen Pfosten wurden die Wäscheleinen befestigt. Ein großer Apfelbaum stand in der Mitte. Dieser eingefriedete Raum war mein erster Abenteuer-Spielplatz.

In der Küche war in einer Nische ein Spülstein mit zwei Becken. Oft hat mein Vater das Geschirr abgewaschen und ich musste abtrocknen (was ich ebenso wenig liebte wie meine größeren Geschwister). Das heiße Wasser für den Abwasch kam aus dem „Schiff“, einem Behälter im Kohlenherd, in dem das Wasser sozusagen nebenbei warm wurde. Außer dem Kohleherd mit seiner blanken Platte (die mit Stahlwolle, Sidolin und viel Kraft geputzt wurde) gab es einen Gasherd. Daneben stand der Holzkasten, der einen Tagesvorrat an Kliwwern (so heißen in Kassel Holzscheite), Spänen und Briketts fasste. In der Nische am Fenster stand mein Kindertisch mit einem passenden Stuhl. Dort habe ich gemalt und geschrieben und später auch meine Schulaufgaben erledigt.

Alle Zimmer hatten einen Ofen und daneben einen Kohlenkasten. Um zu vermeiden, dass die Holzdielen sich entzündeten, war vor jedem Ofen ein Blech auf die Dielen genagelt. Jeder Ofen war durch ein Ofenrohr mit dem Schornstein verbunden. Die Ofenrohre hatte mein Vater mit Silberbronze angestrichen. Das musste von Zeit zu Zeit wiederholt werden. Die Farbe dazu gab es „im Dorf“ (Bettenhausen war im Sprachgebrauch immer noch „das Dorf“, obwohl es längst einer der am stärksten von Industrie geprägten Stadtteile war) in der Drogerie, wohin ich Vater gern begleitete, weil es da nach so vielen unterschiedlichen Essenzen roch. Heizen war eine Kunst. Jeder Ofen wollte anders behandelt werden. Das musste ich spätestens dann lernen, als Vater Soldat wurde. Er hatte den Bogen heraus, wie man mit wenig Papier, ein paar Spänen und einigen dünnen Scheiten ein Feuer in Gang brachte. Vor dem Anzünden am Morgen musste die Asche des Vortages durch den Rost gerüttelt werden. Dann wurde der Aschenkasten vorsichtig auf den Balkon gebracht (Asche fliegt leicht in der Wohnung umher) und in den Ascheimer geleert. War der Ascheimer voll, wurde er in den Mülleimer ausgekippt. Tagsüber musste man darauf achten, dass das Feuer im Ofen nicht so weit herunterbrannte, dass es ausging. Weil das alles viel Arbeit war, wurden möglichst wenige Öfen angesteckt.

In Salzmannshausen gab es breite Bürgersteige, die mit Platten belegt waren – eine ideale Rennbahn für den Zwei-Mann-Handwagen. Mein kleiner Handwagen fasste gerade zwei Knirpse in meinem Alter. Einer saß vorn und lenkte, indem er die Deichsel mit den ausgestreckten Beinen umfasste. Der andere saß hinten, entgegen der Fahrtrichtung und trampelte, was das Zeug hielt. Wir kamen so auf eine erhebliche Geschwindigkeit und fegten um die Kurven, dass manche Leute zur Seite sprangen. Nach einigen Minuten wurden die Plätze getauscht. Wenn wir dazu keine Lust mehr hatten, schwangen wir uns auf unsere Roller. Ich hatte einen aus Holz, bei dem man immer ein Bein zum Abstoßen auf der Erde haben musste. Mein großer Wunsch war ein mechanischer Roller mit Trittbrett-Antrieb; den habe ich nie bekommen.

Heinz Vonjahr, 1935
Auf der Bleiche hinter dem Haus, Heinz Vonjahr (ganz rechts) mit Schwester, Vettern und Base  Foto: Heinz Vonjahr

Auch Dullerdopp (ein Spitzkreisel, der mit einer Peitsche angetrieben wird) ließ sich auf den Platten bestens spielen. Neben den Bürgersteigen verliefen unbefestigte Randstreifen. Mit dem Absatz bohrten wir uns Kuhlen für das Murmelspiel. Wer eine der raren Glaskugeln besaß, konnte damit schnell viele normale Murmeln „abditschen“. – Zum Suchenspielen gab es herrliche Verstecke in dem kleinen Park in der Mitte der Siedlung und zwischen den Häusern. Wenn wir „Räuber und Gendarm“ spielten, waren die größeren Jungen im Vorteil, weil sie schon die Mauern erklimmen und auf der anderen Seite hinunterspringen konnten.

Die sorglose Kindheit von Heinz Vonjahr endete mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 wenige Monate nach seiner Einschulung in die Bettenhäuser Jungenschule (Bürgerschule 25).

Editor: Erhard Schaeffer, 2010

Quelle: Meine Kindheit im Dritten Reich , Heinz Vonjahr 2010

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Kurzbeschreibung

Hier erzählt Heinz Vonjahr von seiner frühsten Jugend aus den dreisiger Jahren des 20. Jahrhunderts, als er mit seiner Familie in der Salzmannstraße wohnte.

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