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100 Jahre Gleis-, Tief- und Ingenieurbau durch die Firma Georg Reisse

Stillgelegtes Industriegleis am Wahlebach

Stillgelegtes Industriegleis am Wahlebach
Foto: B. Schaeffer, Kassel, 2020

Von den führenden Kasseler Baufirmen der Nachkriegszeit waren nur wenige im Gleisbau aktiv. Zu ihnen gehörte die 1913 gegründete Firma Georg Reisse. Angesiedelt im Gewerbegebiet an der Forstfeldstraße, war sie bis zum Verkauf in 2006, sehr erfolgreich für den Schienenbau tätig. Wegen „fehlender innerfamiliärer Nachfolgeregelung“ und schlechter Auftragslage schloss nach mehr als hundert Jahren in 2015 das Familienunternehmen seine Tore.

Der in Gensungen geborene Baumeister Georg Reisse gründete am 23.06.1913 in Korbach gemeinsam mit seiner Frau und seinem Bruder Hans die Baufirma Georg Reisse.
G. Reisse hatte zuvor die Bauschule in Kassel besucht und einige Jahre mit praktischer Tätigkeit seine Kenntnisse vertieft. Nach einem erfolgreichen Firmenstart im Waldecker Land wurde 1915 der Firmensitz in das verkehrsgünstiger gelegene Kassel verlegt, besonders weil die Königliche Eisenbahndirektion Kassel zu den größten Auftraggebern zählte. Bis zum Beginn des 1. Weltkieges produzierte die Familie Rocholl Spazier- und Schirmstöcke in ihrem Werk II auf dem Grundstück Forstfeldstraße 5, weil hier über die Waldkappeler Bahn das benötigte Holz gut angeliefert werden konnte.

Werbung der Firma Georg Reisse
Werbung der Firma Georg Reisse  Foto: HNA Kassel

Hans Reisse starb im Ersten Weltkrieg und sein Bruder übernahm die Firmenanteile. Einen besonderen Namen machte sich die Firma beim Bau der Edertalsperre zwischen 1908 und 1914. Aus dem Familienbetrieb wurde 1938 eine Kommanditgesellschaft. Mit Dampfbaggern und Bodenverdichtungsgeräten war die Fa. Reisse ab 1938 am Bau der Reichsautobahn zwischen Hersfeld und Eisenach sowie zwischen Frankfurt/Oder und Posen beteiligt. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges beschäftigte die Reisse rund 600 Mitarbeiter und hatte seit 1937 eine Niederlassung in Berlin.
Mit dem Zweiten Weltkriegs wurde die stetige Aufwärtsentwicklung des Unternehmens abrupt unterbrochen. Am Ende des verlorenen Krieges waren im Osten Deutschland alle eingesetzten Großgeräte abhandengekommen und durch die innerdeutsche Grenze gingen große Gebiete der Firmentätigkeit verloren. In Kassel wurden der Lagerplatz und das Büro in der Forstfeldstraße 5 durch Bombardierung schwer beschädigt.
Von den drei Söhnen des Firmengründers fielen zwei an der Ostfront. Die Baufirma stand 1945 vor dem Ruin. Dem verbliebenen Sohn, Dipl. Ing. Hans Reisse, der seit 1938 schon die Außenstelle in Berlin geleitet hatte, und seinem Vater Georg gelang es mit einem eingearbeiteten Stamm von Mitarbeitern in kurzer Zeit die Kriegsfolgen zu überwinden und die Firma wieder auf Erfolgskurs zu bringen. Es folgten Aufträge zum Wiederaufbau des Kasseler Hauptbahnhofs und der Auefeldsiedlung. Auch in Norddeutschland arbeitete Reisse mit Erfolg im Gleis-, Tief- und Ingenieurbau.

Gleisumbaumaschine beim Bau der Lossetalbahn in 1998
Gleisumbaumaschine beim Bau der Lossetalbahn in 1998  Foto: HNA Kassel

Beim Tode des Firmengründers Georg Reisse in 1952 hatte die Firma ihr altes Ansehen wiedererlangt und beschäftigte über 100 Mitarbeiter. Mit einem modernen Maschinenpark und durch besondere Leistungsmerkmale wurde das Unternehmen weit über Nordhessen hinaus bekannt. Ende der 1950er Jahre konzentriertes sich die Firma zunehmend auf Tief-, Straßen- und Gleisoberbau.
1972 stiegen die Söhne von Hans Reisse, Henner und Helmut Reisse, als Geschäftsführer in das Unternehmen ein. Dipl. Ing. Hans Reisse verließ 1985 mit 74 Jahren die Unternehmensleitung. Die Laudatio zum 75jährigen Geschäftsjubiläum in 1988 hielt der damalige Hessische Wirtschaftsminister Alfred Schmidt.
Der Dipl. Ing. Hans Reisse, Seniorchef des Unternehmens, wurde für seine ehrenamtlichen Verdienste mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet. Er war u.a. Vorsitzender des Verbandes der Bauindustrie Hessen e. V., Vorstandsmitglied in der Bundesfachabteilung Eisenbahnoberbau im Hauptverband der Deutschen Bauindustrie und engagierte sich im Facharbeiter-Prüfungsausschuss für Gleiswerker sowie in der Tiefbau-Berufsgenossenschaft.
Als in 1998 die Lossetalbahn neue Gleise bekam war die Fa. G. Reise als Mitglied einer Arbeitsgemeinschaft mit neuester Technik im Einsatz. Mit einem vier Million Mark teuren Gleisumbaumaschine konnten pro Schicht bis zu 1000 Meter Schienen erneuert werden.

Reisse Mitarbeiter beim Gleisbau in der Nähe von Wolfhagen
Reisse Mitarbeiter beim Gleisbau in der Nähe von Wolfhagen  Foto: Brandau, HNA, Kassel

Neueste Technik war auch beim Bau der Nebenstrecke nach Wolfhagen im August 2006 im Einsatz. Vor dem Bahnhof von Ahnatal-Weimar verlegten Mitarbeiter der Fa. G. Reisse neue Schienen und setzten dabei eine moderne Gleisstopfmaschine ein. Es war wohl einer der letzten Aufträge die unter den Namen „Gleisbau Georg Reisse“ abgewickelt wurden.

Zwei Lokomotiven der niederländischen Fa. Strukton Railinfra
Zwei Lokomotiven der niederländischen Fa. Strukton Railinfra  Foto: Geert Smulders, Rosmalen, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Lokomotief_Strukton.jpg

Der niederländische Gleisbaukonzern Strukton Railinfra aus Maarssen übernahm in 2006 alle Niederlassungen der Firma Reisse und auch ihre 175 Mitarbeiter. Die Firmeninhaber Henner und Helmut Reisse begründeten den Schritt mit „fehlender innerfamiliärer Nachfolgeregelung“.
Am 1. September 2010 kaufte die Rohde Gruppe, mit Sitz in Korbach – Meineringhausen, die Teilfirma Reisse-Bau in Erfurt und wandelte sie am 21.09.2010 um in die Reisse-Bau GmbH u. Co.KG. Auch heute (2023) gibt es in Erfurt noch die Rohde Tief-, Straßen- und Gleisbau GmbH mit Firmensitz im Mühlweg 35.
Strukton Railinfra versprach die Erhaltung aller Arbeitsplätze und eine Steigerung des Umsatzes auf 100 Mio. € jährlich. Doch schon acht Jahre später stand in der lokalen Presse zu lesen: „Die konzernstrategische Entscheidung über die Aufhebung der Konzernfinanzierung führte am 18. bzw. 23. Dezember 2014 zur Insolvenzantragstellung der Strukton Rail GmbH & Co. KG sowie der Strukton Systems GmbH & Co. KG beim Amtsgericht Kassel.“ Das Insolvenzverfahren wurde am 1. März 2015 eröffnet.
Die Willke Gruppe aus Wittorf übernahm Teile der Strukton Rail GmbH und neun Mitarbeiter. Für die ausscheidenden Mitarbeiter wurde ein Transfergesellschaft eingerichtet. Die Traditionsfirma Georg Reisse war Geschichte.

Lokomotive der Fa. Rose mit Werbung für den KSV Hessen Kassel
Lokomotive der Fa. Rose mit Werbung für den KSV Hessen Kassel  Foto: https://www.ksvhessen.de/galerie.php?id=2428#image-9

Geblieben ist der Sitz einer Gleisbaufirma unter der Adresse Kassel, Forstfeldstraße 5. Hier hat heute (2023) die Fa. Martin Rose GmbH & Co. KG ihre Geschäftsräume. Sie arbeitet nach dem Motto „Bevor Sie auf den Zug aufspringen, sollte er auf den richtigen Gleisen stehen“.

Text und Editor: B. Schaeffer, Januar 2023
Quellen:
Archiv der HNA mit Ausgaben aus den Jahren 1963, 1988, 2006 und 2014/15

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Kurzbeschreibung

Von den führenden Kasseler Baufirmen der Nachkriegszeit waren nur wenige im Gleisbau aktiv. Zu ihnen gehörte die 1913 gegründete Firma Georg Reisse. Angesiedelt im Gewerbegebiet an der Forstfeldstraße, war sie bis zum Verkauf in 2006, sehr erfolgreich für den Schienenbau tätig. Wegen „fehlender innerfamiliärer Nachfolgeregelung“ und schlechter Auftragslage schloss nach mehr als hundert Jahren in 2015 das Familienunternehmen seine Tore.

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