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90 Jahre Zissel - Aus der Heimat des Zissels
- Autor: Gerhard Böttcher
- Zeit: 1928
- Ort: Unterneustadt
- Vom: 05.06.2016
- Themen: Anekdoten, Künstler, Chronisten und Biografen
In der Unterneustadt herrscht große Freude über den wieder auferstandenen Zissel. Alles ist gespannt wie ein Flitzbogen auf die Zisselzeitung, denn darin würden sicher die alten Zisselbrüder aus dem „Dörfchen" nicht vergessen!
Der Zissel war in seinen Anfängen eigentlich nur eine Angelegenheit der Unterneustädter und der Altstädter um die Fuldagasse in der Schlagd drüben. Die Oberneustädter kümmerten sich nicht viel darum. Deshalb freuen wir uns auch so, daß heute die ganze Stadt, ja die ganze Provinz, Anteil an dem Fest nimmt. Zwischen der Mühlengasse und der „Lumbse" (Kreuzgasse) waren früher drei Kneipen nebeneinander, nämlich an der Mühlengassen-Ecke der „Hübel", an der Lumbse-Ecke der „der Kohlhas und zwischen den beiden das Wirtshaus der Witwe Schäffer. Das war eine kleine Bude, wo nur ein Dutzend Gäste Platz hatten. Ein großer Kerl musste sich beim reingehen bücken, sonst stieß er sich an den Kopf.
Hier verkehrten der „Dachhase" (Dachdecker) Kohl, der Handschumacher N., der Turmwächter N., der Kirchendiener St., genannt Zwiebelnase, der Laternenanstecker S.,kurz der „Scheiwe" (Bucklige), bekannt als der alte Kohlenwäscher.
Diese Tischgesellschaft, die gerne „Leiter" (Zissel-Experten) spielten, waren aus Hohn und Spott so benannt. Im Nebenberuf waren die meisten „Fischreiwe", -pardon Fischfänger, und verstanden auch was von „Litzerte" (Stieglitze) fangen. Das sie alle gut Kahn mit der Stange fahren konnten, war so klar wie Klosbrühe und deshalb fehlten sie bei keinem Zissel. Da sie auch gerne einen zisselten (tranken), war der Zissel für sie ein großer Tag. Der „Scheiwe" hatte dem Fuselkrämer K. einen alten Äppelkahn" gegeben, damit gondelte er mitten auf der Fulda herum und mancher junge Unterneustädter hatte beim „Scheiwen" das fahren gelernt. Überhaupt waren bald die ganzen Unterneustädter Süßwassermatrosen. - dass heißt sie konnten alle mit der Stange fahren,- was nebenbei gar nicht so einfach war. Das konnte eigentlich gar nicht anders sein, denn im „Dörfchen" war fast jedes Jahr Hochwasser mit anschließender Kirmes.
Sie hätten einmal im Jahr 1907 das Hochwasser erleben müssen, da ging es hoch her. Da waren alle „Wasch-Stunze" (Waschzuber) n Bewegung, wir fühlten uns wie in Venedig. Da ging es mit dem „Stunz" durch die Mühlengasse, durch die „Lumbse (Kreuzgasse), durch die „Schingergasse" (Waisenhausstraße), wobei die „Fuchse" (Fuchsgasse) , als Verbindungskanal diente.
Stationen wurden viele gemacht und deshalb gab es auch massig „Bierleichen". Manche hat der „Scheiwe" mit seinem Äppelkahn bis zur Haustüre gefahren. Nach der Wasserkirmes sah es im „Dörfchen" recht trübe aus. Die alten „Kötzen" (Häuser) streckten den Bauch , das heißt ihr Gemäuer wieder sichtbar an das Tageslicht und in manchen Stuben waren die Dielen aufgerissen. Kaum waren ein paar Wochen herum, war der Schaden vergessen, alles freute sich auf den nächsten Rummel, der Unterneustädter war eben ans Wasser gewöhnt.
Und so freuen wir uns alle auf den schönen Zissel, der in neuer Pracht und Herrlichkeit auferstanden ist. Wir alten im „Dörfchen" geborenen Unterneustädter hoffen, dass jeder Bürger, die echten, sowie die Heimattreuen an den Zisseltagen auch einmal die schöne Unterneustadt besuchen, nicht nur die Leipziger Straße und den Kirchplatz, sondern auch die Mühlengasse, die Fuchse, die Lumbse, die Schingergasse, den Ziegenstall, die kleine Königstraße (Bettenhäuser Str.), die Kerbe (Arschkerbe) und all die schönen malerischen Ecken.
Da lernt so mancher Kasselaner seine Heimatstadt erst richtig kennen. Da wird er in den gemütlichen Kneipen in der „Stadtmauer", beim Henner Hölting im „Schlafrock", in der „Alten Mühle", beim „Summser in der Sonne", im „goldenen Stern" und den anderen Wirtschaften goldenen Humor, er wird alten Zicken (Anekdoten) und Zisselstreiche kennen lernen, was noch in keinem Buch festgehalten wurde.
Kein Kasseler wird es bereuen wenn er ein paar Stunden im Dörfchen zugebracht hat und wer den Zissel nicht auf der Fulda mitmachen kann oder will, weil er Angst vor der Seekrankheit hat, der soll fest einen mit den alten Unterneustädtern zisseln und wenn alle genug gezisselt haben, schmettern wir alle gemeinsam die Kasseler Nationalhymne:
Ich bin Kasselaner von der Fulle Strane,
de Unnerneistadt äß minn Heimatland.
Druselturm, do wohnt minne -tante,
am Altmarkt war ich wohl bekannt.
Am Pääremarkt do drunnen,
honn ich minn Glicke gefunnen
ich been Kasselaner, wäll Kasselaner sinn.
Die Geschichte entstand Ende der Zwanziger Jahre und dürfte wohl gleichzeitig mit dem Buch von Gustav Wentzell „Kasseler Zissel" 1928 veröffentlicht sein. Der Gastwirt G. Wentzell galt als einer der besten Kenner des Zissels.
Für alle Verständnisfragen zum Thema Kasseler Mundart verweisen ich sie auf das "Wörterbuch der Kasseler Mundart" von August Grassow und Paul Heidelbach. Es ist frei im Netz verfügbar.
Editor: Gerhard Böttcher
Text: Gustav Wentzell
Fotos: Murhard Bibliothek, privat
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Kurzbeschreibung
In der Unterneustadt herrscht große Freude über den wieder auferstandenen Zissel. Alles ist gespannt wie ein Flitzbogen auf die Zisselzeitung, denn darin würden sicher die alten Zisselbrüder aus dem „Dörfchen" nicht vergessen!
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