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Beispielhafte Lehrlingsausbildung bei der Spinnfaser
- Autor: Erhard Schaeffer
- Zeit: 1960
- Ort: Industriegebiet Lilienthalstrasse/Wohnstrasse
- Vom: 02.06.2017
- Themen: Firmen- und Industriegeschichte, Industrie und Gewerbe
Die Spinnfaser AG auch kurz „Spifa“ genannt war für die Industriegeschichte des Stadtteils Bettenhausen prägend. Bei ihr fanden in der Mitte des 20. Jahrhunderts von 1935 bis 1984 mehrere Generationen Arbeit und Ausbildung. Speziell die Ausbildung war beispielhaft für ganz Nordhessen. Lehrling bei der Spinnfaser AG zu sein, hieß damals nicht nur an Reagenzgläsern, Schweißgeräten, am Reißbrett oder an der Schreibmaschine ausgebildet zu werden. Es hieß auch Sport, Wandern, Besichtigungsfahrten, Fotowettbewerb oder auch Singen und Laienspiel zu erfahren. In der Summe war diese Ausbildung im Vergleich zu der Lehre in einem kleinen Handwerksbetrieb einfach einmalig.
Als 1934 die Vereinigten Glanzstoff-Fabriken AG Wuppertal-Elberfeld eine weitere Produktionsstätte für die Zellwollherstellung suchten, wurden sie auf dem ehemaligen Gelände der Munitionsfabrik in Kassel an der Lilienthalstraße fündig. Sie errichteten in kurzer Zeit die Anlagen einschließlich Schornsteinen und Kesselhaus zur Herstellung der am Markt stark nachgefragten Zellwolle. Am 13. November 1935 war es dann so weit, dass die ersten beiden Spinnmaschinen mit einer Produktion von 4,5 Tagestonnen anliefen. Zu diesem Zeitpunkt zählte die Belegschaft 572 Lohnempfänger und 103 Angestellte. Hinzu kamen noch 1436 Mitarbeiter von Fremdfirmen. Um den Facharbeiterbedarf zu decken, wurden Arbeiter aus dem Raum Worms angeworben. Die Produktion steigerte sich und erreichte bis Ende 1939 eine Tagesproduktion von 100 Tonnen.
Schon früh erkannte die Werksleitung das zur Sicherung des Standortes eine fundierte Ausbildung von Nachwuchsarbeitskräften erforderlich war. So begann eine beispielhafte Lehrlingsausbildung in Bettenhausen. Am 1. April 1938 wurde eine Lehrlingswerkstatt eröffnet. Mit der Ausbildung und Schulung der Meister war bereits im Vorjahr begonnen worden. Ab 1938 bis in die Jahre des Zweiten Weltkrieges und danach wurden jährlich bis zu hundert Lehrlinge ausgebildet. Zu den Berufsgruppen zählten u. a. Chemie- und Physiklaboranten, Betriebsschlosser, Starkstromelektriker, Industriekaufleute und Bürogehilfinnen. Die Besten ihres Jahrgangs fanden einen festen dauerhaften Arbeitsplatz in ihren Betrieb. Einige davon konnten bis zur endgültigen Schließung der Firma 1984 auf ein 40igjähriges Arbeitsjubiläum zurückschauen.
Nach dem die Zellwollherstellung durch Bombardierung und Anlagenzerstörung ende der 1940 Jahre wieder anlief wurde schon 1947 erneut die Ausbildung vorangetrieben. In den 50er Jahren gab das Werk alljährlich 500.000 DM für die Lehrlingsausbildung aus. Auf jeden Lehrling entfielen durchschnittlich 5000 DM Kosten. Das mag aus Sicht der heutigen Kosten für die Ausbildung eines AZUBI gering erscheinen, aber der Lebensstandard in den Aufbaujahren war weit geringer als heute. 1955 verfügt eine durchschnittliche Arbeitnehmerfamilie mit zwei Kindern über ein Monatseinkommen von rund 470 DM brutto (Quelle: www.chroniknet.de). Der Kaufpreis für einen VW Käfer, Standard, betrug 3750,- DM. Die Erziehungsbeihilfe für Lehrlinge lagen in den 50er Jahren abhängig vom Lehrjahr zwischen 30 DM und 80 DM im Monat und stieg in den 60er Jahren auf 120-180 DM Lehrlingsvergütung.
Die Lehrlingsausbildung erlangte in den Zeiten des Wirtschaftswunders der 50er Jahren zunehmend an Bedeutung. Im Bereich der Industrie- und Handelskammer Kassel stiegen die Zahl der Abschlüsse von 3239 kaufmännischen und 2662 gewerblichen Lehrlingen im Jahr 1947 auf 8629 bzw. 4051 im Jahr 1955. Die Auswahl unter den mehreren Hundert Bewerbern für die Lehrstellen bei der Spifa war streng und richtete sich nicht nur nach den schulischen Leistungen. Wer Lehrling bei der Spifa werden wollte, musste sich vorher psychologischen Eignungsprüfung und einer ärztlichen Untersuchung unterziehen. Nur etwa 25 % der Kandidaten bekamen einen der begehrten Plätze.
Ein Stab von Ausbildern, wie die Herren Glorius, Steinmeier, Schulz, Bogner, Loll und Berg, bemühte sich um die jungen Leute. Ein eigens eingestellter Werkschullehrer büffelte mit den Jungen und Mädchen Rechnen Fachrechnen und Fachzeichen. Eine eigene Abteilung unter Leitung des Diplompsychologen Wolfgang Schuhmann und später in den 1960er Jahren unter Diplomsozialpädagoge Bernhard Stannek war für die Lehrlinge zuständig. Die Ausbildung für die gewerblichen Lehrlinge begann für alle in der Lehrlingswerkstatt (Bau 25) bei Meister Glorius. Nach vier Wochen wechselten die einzelnen Fachbereiche in andere Ausbildungsräume. Für die Laboranten gab es ein eigenes Lehrlabor für die praktische Berufsausbildung unter der Leitung von Herrn Bogner und später Herrn Loll. Für den neuen Lehrberuf des Meß- und Regelmechanikers wurde erst 1960 eine eigene Ausbildungswerkstatt unter dem Meister Berg geschaffen.
Neben dem wöchentlichen Berufsschultag fand mindestens an einem Wochentag theoretischer Unterricht im Werk statt. Die Lehrlinge erhielten neben dem allgemeinen Berufsschulzeugnis halbjährlich Zeugnisse des Betriebes. Der Stundenplan des Werkes sah grundsätzlich drei Sportnachmittage im Monat vor. Auf dem Gelände des späteren Diolen-Werks gab es einen betrieblichen Sport- und Fußballplatz und eine Tennisanlage (TUSPO Bettenhausen). Die Tennisanlage befand sich in Kassel-Bettenhausen in der Lilienthalstraße auf dem Gelände der Firma. Der Schwimmsport wurde im Freibad Lohfelden durchgeführt. Im Sommer wurden ähnlich den Bundesjugendspielen Wettkämpfe ausgetragen. Eine werkseigene Kegelbahn gab es unter dem Gästehaus in der Wohnstr. 3b. Gebadet wurde im Kühlbecken des eigenen Kraftwerkes und im Winter ging es in die Werkssauna. Ein eigener Werksarzt, Herr Dr. Wissling, stand für die arbeitsmedizinischen Untersuchungen zur Verfügung. Für die Eltern der meist minderjährigen Lehrlinge gab es alljährlich Elternnachmittage um sie in die berufliche Erziehung ihrer Kinder einzubeziehen.
Für die Wahrnehmung der Belange der minderjährigen Lehrlinge gab es eine Jugend- und Auszubildendenvertretung (JAV) im Werk, in die Lehrlinge und anderer Arbeitnehmer bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres gewählt wurden.
Auch das gehörte zum Rahmen der Ausbildung und Erziehung:
- außerbetriebliche Betreuung bei Sportabzeichen und Schwimmzeugnissen
- vierteljährliche ganztägige Wanderungen
- Besichtigungsfahrten zu anderen Betrieben
- verbilligte Theater- und Konzertkarten
- sozialpädagogische Lehrgänge in Rotenstande, Vlotho und Baad
- Ausbildungslehrgänge in vom Glanzstoffkonzern unterhaltenen Schullandheim Freisheim
- Foto-Arbeiten im werkseigenen Fotolabor
- Aufführungen von einstudierten Weihnachtsmärchen und Laienspielen
Das Laienspiel als besonderes pädagogisches Instrument der Lehrlingsausbildung hatte Tradition bei der Spinnfaser. Oft wurden mehr als 20 Lehrlingen der verschiedenen Fachgruppen und Lehrstufen zwei Wochenstunden zum Einstudieren der Stücke unter Anleitung erfahrener Schauspieler zur Verfügung gestellt. Axel Herwig, Lehrer und bekannter Mundartdichter, Sänger und Schauspieler, war einer dieser Pädagogen. Die Laienspiele brachten gruppendynamische Erfahrungen und stärkten das Gemeinschaftsgefühl. Die einstudierten Stücke wurden dann den anderen Lehrlingen, Betriebsangehörigen und den Eltern vorgeführt.
Diese intensive Unterstützung der Lehrlinge spiegelte sich auch beim Ablegen der Prüfungen vor der Industrie- und Handelskammer wieder. Bei den Abschlussprüfungen eines Jahrgangs erhielten 60 bis 80 Prozent der Spinnfaser-Lehrlinge die Noten „Gut“ und „Sehr Gut“. Die Außerdienstliche Betreuung führte zum Ablegen des Bundessportabzeichens, des Jugendsportabzeichens, des Schwimmerzeugnisses und des Grundscheines der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft. Die Erziehung durch die Firma meinte den ganzen Menschen. Mit dieser Ausbildung konnten die Lehrlinge der Spifa die vielfältigen Aufgaben, die Beruf und Leben an sie stellte, in der Zukunft besser meistern. Die Firma übernahm damit eine Mitverantwortung für die Gestaltung einer sozial- und gesellschaftspolitischen Ordnung, ein Sinnbild dieser Zeit.
Editor: Erhard Schaeffer, Mai 2017
Quellen:
- Geschichtskreis Bettenhausen früher und heute "Industriestandort Bettenhausen" 2007
- Aus der Geschichte unseres Unternehmens , Chronik 1956
- Persönliche Erfahrungen von Joachim Schmidt und Erhard Schaeffer, als Lehrlinge der Spifa
- HNA Archiv 1947, 1957, 1965, 1969
- Fotos private Sammlung von Hannelore Diederich, Joachim Schmidt und Erhard Schaeffer
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Kurzbeschreibung
Die Spinnfaser AG auch kurz „Spifa“ genannt war für die Industriegeschichte des Stadtteils Bettenhausen prägend. Bei ihr fanden in der Mitte des 20. Jahrhunderts von 1935 bis 1984 mehrere Generationen Arbeit und Ausbildung.
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