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Carla Fischer, geb. Klewes - Erinnerungen an das "Lettenlager" im Forstbachweg
- Autor: Falk Urlen
- Zeit: 1968
- Ort: Haus Forstbachweg
- Vom: 23.08.2023
- Themen: Stadtentwicklung, Menschen erzählen
Carla Fischer, geb. Klewes, starb im Mai 2023 und verfügte, dass ein Ordner mit Aufzeichnungen und Zeitungsausschnitten nach ihrem Tod Falk Urlen für die weitere Verwendung in „Erinnerungen im Netz“ zur Verfügung gestellt werden soll. Der Nachlassverwalter sandte diesen Ordner an den Autor.
Ich werde versuchen, aus diesen Aufzeichnungen eine Darstellung der Zustände im „Lettenlager“ am Forstbachweg zu erstellen, um die Situation in den 60er und 70er Jahren, in der sich damals die Obdachlosen befanden, aus der Sicht Klewes zu dokumentieren.
Auf der Rückseite des oben abgebildeten Sterbebildchens hatte sie selber formuliert:
Ich nehme Abschied
Meine Energien und politische Neugier, mein Gedankenreichtum und meine leidenschaftliche Präsenz, sowie meine Liebe zu Menschen. Ja, ich hatte noch Pläne und Träume, doch nun gehe ich zum Herrn, an den ich immer geglaubt habe. à dieu
Bürgermeister Wündisch erklärte im Juni 1972 (HNA 21.06.72) bei einer Diskussion mit Rolf Hochhut, dass von den 1957 bestandenden Notunterkünften 1972 nur noch 115 bestehen. Neue Obdachlose gäbe es nicht. „Was dort unten lebt, sind Dauerbewohner“. Mit „dort unten“ meinte er die Obdachlosensiedlung am Forstbachweg, das „Lettenlager“. Ab 1968 war Carla Fischer im Forstbachweg als Sozialarbeiterin tätig. Sie empfand das, was in und mit dem Lager passierte, als schreiendes Unrecht, welches sie mit tätiger Hilfe etwas mildern wollte und konnte. Mit Tatkraft, unkonventionellem Handeln und vielen Briefen, die sie an die zuständigen Institutionen schrieb, konnte sie Verbesserungen für die Obdachlosen erreichen.
So schrieb sie einmal, dass die Bewohnerinnen und Bewohner des Obdachlosenlagers anderen Menschen gegenüber misstrauisch seien, bei Versuchen mit ihnen ins Gespräch zu kommen, verweisen die Lagerbewohner auf ihre vorbildlichen Erziehungsmaßnahmen und das ordentliche Leben, welches sie führen. Aber iin Wirklichkeit sei ihr Motto: „Wir leben für uns allein und kommen mit niemandem aus der Nachbarschaft zusammen. Was die anderen tun, ist uns vollkommen gleichgültig.“
In 1969 schrieb Reinhard Wölfing in einer „Familienmonographie“ über das Lager, dass in diesen 88 Wohnungen etwa 600 Menschen wohnen, wobei die genaue Zahl nicht bekannt sei. Die „Unterkunftgebühr“ (nicht Miete) betrug 84 DM je Wohnung, die aus je zwei Zimmern, einer Wohnküche und einem Waschraum mit Toilette bestand.
70 % der hier lebenden Kinder gingen zur Sonderschule, deren Familien haben ein durchschnittliches Einkommen von 160 DM bei einer durchschnittlichen Kinderzahl von fast sechs, 78 % der Kinder haben kein eigenes Bett, die Väter haben meistens keinen Beruf erlernt und sind Hilfsarbeiter. Fast 40 % der Väter trinken übermäßig und sind vorbestraft. Von den Müttern sind 56 % am Wohnort geboren, 25 % bekamen vor dem 18. Lebensjahr ein Kind, 75 % bekamen bis zum 25. Lebensjahr mindestens ein Kind. 90 % der Mütter haben keinen Beruf erlernt. Abschließend schreibt Wölfing: „Die Eltern sind in der Mehrheit in den Jahren von 1927 bis 37 geboren, sie sind während der Kriegsjahre aufgewachsen, hatten keinen geregelten Unterricht, fanden keine passende Anstellung und heirateten früh. Der Kinderreichtum und die räumliche Enge verstärken noch die katastrophale Lage. Die Eltern sind nicht in der Lage, genau so wenig wie sie selbst vorbereitet wurden, ihre Kinder auf den rechten Weg zur Lebensbewältigung zu bringen.
Die damalige Sozialarbeiterin „Fräulein Carla Klewes“ schildert ihren beruflichen Lebenslauf in ihrer Bewerbung für die Betreuung des Lager Forstbachweg. Sie arbeitete seit Mai 1960 im Kasseler Sozialamt bei der Familienfürsorge. Dann war sie im Bezirk Nieder– und Oberzwehren im Wesentlichen im Bereich Wartekuppe mit fünf großen Baracken und mit über 200 Personen eingesetzt. Hier hielt sie in einem reservierten Raum Beratungen ab, einmal im Monat mit einem Arzt. Das führte sie auch später im Forstbachweg weiter, nachdem sie in Verbindung mit anderen Institutionen den Arzt Dr. Vent gewann, hier Sprechstunden abzuhalten. Dr. Vent hatte seine Praxis in der Wißmannstr., hier wohnte er auch. Fast alle Mütter erschienen mit ihren Kindern, Klewes berät über erforderliche Anschaffungen, Ernährung, Bekleidung oder auch Kuren. Dabei werden auch die Väter mit einbezogen, deren Arbeitsmoral durch die immer wiederkehrenden Fehlschläge sehr gelitten hat. Mit Hilfe des Arbeitsamtes werden neue Arbeitsplätze beschafft und dann auch versucht, die vermittelten Personen am Arbeitsplatz festzuhalten. Einige junge Familienväter müssen aber erst einem Arzt vorgestellt werden, um wieder „voll arbeitseinsatzfähig“ zu werden. Auf Vorschlag von „Fräulein Klewes“ sollte eine Röntgenreihenuntersuchung durchgeführt werden, bei der ausnahmsweise auch Kinder unter 6 Jahren „geschirmbildet“ wurden.
In einem Referat macht sich Klewes Gedanken über die hier bestehende Obdachlosigkeit und warum die meisten Bürgerinnen und Bürger diese nicht als Problem der Gesellschaft sehen. Die Menschen meinen, so Klewes, dass diese Personen ihre Notlage selber verschuldet hätten, andererseits wollten diese gar nicht anders leben und lehnten jede Hilfe ab. Nach Klewes Meinung ist der Prozentsatz der unangepassten Gruppen andererseits relativ gering. Dennoch steht diesen Menschen rechtlich gesehen auch entsprechende Hilfe zu, auch wenn diese die ablehnen, zumal bei den Kindern könne man nicht von „asozialem Verhalten“ sprechen, da sie gar kein anderes Verhalten gelernt hätten. Trotzdem lohne es sich, gegen dieses Verhalten finanzielle Mittel in die Hand zu nehmen, um später wesentlich mehr Mittel einzusparen (Heimunterbringen, Krankenhaus, Strafanstalt). Ein Problem für Menschen wie sie, die sich um diese Personengruppe kümmert, sei, das sie selber als „hoffnungslose Idealisten“ angesehen würden, die sogar von Behörden unfreundlich behandelt bzw. abgewiesen werden, wenn diese die Obdachlosenproblematik vorbrächten.
Klewes selbst will eine Änderung der Menschen dadurch erreichen, dass sie im Haus Forstbachweg (das war damals ein anderes Haus als heute) seit 1969 Sprechstunden für die 80 Familien mit ihren fast 200 Kindern anbietet. Von den gemeldeten ca. 30 Kindern blieben aber bald nur 10 zurück u. a. wegen der Probleme: unzureichende Pflege, Kleidung, Erkrankungen, „Faulheit der Eltern“ und finanzieller Mangel.
Im damals noch zuständigen Kindergarten auf dem Lindenberg wurden vorwiegend Kinder aus sozial schwachen Familien aufgenommen, die aber das Personal überforderten. Bis zu 60 % der Kinder aus der Notunterkunft wiesen Organschäden, Mangelerkrankungen, Bettnässen, Einkoten, Stottern usw. auf und waren im allgemeinen wenig gruppenfähig. Klewes fordert deshalb wenigstens einen Spielplatz, auf dem Sozialverhalten trainiert werden könnte, den gab es zu damaliger Zeit aber noch nicht.
Eigentlich hätten viele der Kinder bei Schuleintritt in eine Vorbereitungsklasse gehört, die gab es aber im Kasseler Osten nicht. Die schwachen Leistungen der Kinder resultierten weniger aus Minderbegabung, sondern eher aus dem häuslichen Umfeld. Oft gingen die Eltern selber auf eine Sonderschule und konnten so den Kindern bei schulischen Aufgaben nicht helfen. Zum anderen fehlte den Kindern einfach der notwendige Wortschatz, um in der Schule erfolgreich zu sein, insofern besuchten auch noch 1970 fast die Hälfte der Kinder die Sonderschule. Die eingeführte Aufgabenbetreuung für Sechs- bis Achtjährige wird von den Eltern nicht akzeptiert, da diese auch hier ohne weitere häusliche Hilfe überfordert sind. Das gilt auch für die viel zu wenigen Lehrkräfte, die Probleme haben, mit diesen Kindern umzugehen, außerdem musste der Unterricht aus Personalmangel bereits um 15:00 Uhr beendet werden und nicht, wie es geplant war, um 16:00 Uhr. Die Kinder selber empfanden diese Umstände nicht als problematisch, rückblickend empfanden sie ihr Leben im Lager schön.
Die mangelnde Sauberkeit ist ein weiteres großes Problem, da in den Wohnungen lediglich eine Waschstelle mit kaltem Wasser vorhanden war. Darum fordert Klewes mehr Schwimmunterricht, damit die Kinder überhaupt Waschmöglichkeiten hätten. Das aber scheitert an freien Terminen bzw. am Fahrgeld.
Wiederholt wurde bei den Kindern und in den Wohnungen Ungeziefer festgestellt (Läuse, Flöhe, Wanzen, Ratten). Insofern wurden in den Wohnungen mit dem Gesundheitsamt Entwesungen (Vernichtung von Schädlingen) vorgenommen.
Die Kinder hatten Hautausschläge, Organ- und andere Erkrankungen, gingen aber nicht zum Arzt, weil sie sich schämten, als aus dem Lager kommend erkannt zu werden. Aus diesem Grund fand Klewes einen Forstfelder Arzt (s. o.), der bereit war, im Lager Gesundheitsdienste anzubieten. Unter Klewes Anwesenheit untersuchte der Arzt die von Lehrern gemeldeten Kinder, es ließen sich aber auch Erwachsene untersuchen, die sich nicht trauten, eine Arztpraxis aufzusuchen. Aufgrund dieser Untersuchungen wurden Kinder in das Kasseler Schulerholungsheim auf Sylt verschickt, um sich zu erholen, auch um dort weiter von den mitreisenden Lehrkräften unterrichtet zu werden. Diese Veranstaltungen, sowie auch die vor Ort zur Organisation der Freizeit, konnten aber dann aus finanziellen Gründen nicht weitergeführt werden. Klewes meinte, dass wenigstens versucht werden sollte, diese Kinder in den Ferien aus den Familien herauszuholen.
Einmal im Monat findet mit einer Amtsärztin eine Mütterberatung für Säuglinge statt. Zu diesen Terminen kommen 10 bis 15 Mütter mit ihren Kindern. Außerdem werden Hausbesuche durch diese Ärztin durchgeführt. Ein Problem sei, die Abneigung gegen Antikonzeptionsmittel zu überwinden. Anfragen zu Eileiterunterbrechungen (Tubenligatur) und Abtreibungen wurden von der Ärztekammer positiv entschieden.
Diese Fragen wurden auch in der neu gebildeten Müttergruppe behandelt, zu der 10 bis 12 Mütter kamen, um zu Basteln, zu Handarbeiten, zu Kochen und Backen in der Schulküche, spazieren zu gehen oder um Tagesfahrten zu unternehmen.
Ein anderes Problem war das Zähneputzen. Mit Unterstützung des Schulzahnarztes wurde mit Hilfe des „Zahnputzbeutels“ das Pflegen der Zähne trainiert. Das musste aber abgebrochen werden, da keine Zahnpasta mehr zur Verfügung stand.
Da in den Schulen bei den Kindern häufig Läuse festgestellt wurden, die Eltern der Mitschüler dieser Situation verständnislos gegenüberstanden, wurde gefordert, dass alle Lagerbewohner auf Läuse und Wanzen untersucht würden und Desinfektionen der entsprechenden Wohnungen durchgeführt werden sollten.
Über eine zwölfköpfige Familie beschwerten sich einmal andere Hausbewohner, wonach eine Entwesung und Desinfektion durchgeführt wurde. Im Bericht war dann zu lesen: „Alle Räume machten einen sehr schmutzigen Eindruck. Schmutz, Essensreste und Ungeziefer aller Art machten eine sofortige Entwesung dringend erforderlich. Ein Wohnraum wurde wohnlich nicht benutzt, war bewusst durch Gardinen und Schränke abgedeckt und zugestellt. Dieser Raum dient momentan als Müllablage bzw. Ablageraum für schmutzige und urindurchnässte Wäsche. Die Kinder befanden sich ebenfalls im verwahrlosten Zustand. Der Amtsarzt empfahl: „Entrümpeln bzw. Abfahren von stark verschmutztem und beschädigtem Mobiliar. Nach Leerung und Säuberung der Wohnung erneute Entwesung durch das Gesundheitsamt. Später laufend Kontrollen durch zuständige Fürsorger bzw. Fürsorgerinnen des Außendienstes und durch Außenbeamte der Obdachlosenfürsorge“.
1972 war es schließlich so weit, dass das Lager aufgelöst wurde. Das sollte zunächst bis Juli geschehen, nachdem sich der Baubeginn der neuen Steul-Siedlung aber auf Oktober verschob, hatte man etwas Zeit gewonnen. Jetzt ging es darum, wo die Bewohner unterzubringen waren. Sollte man sie in einem Stadtteil zentrieren oder sie in Kassel verteilen. Für ersteres sprach, dass in dieses Lager hinein extra eine Sonderschule gebaut worden war, die die Hälfte der Kinder besuchten. Die GWG bot am 20. April 1972 an, freiwerdende Wohnungen für die Bewohnerinnen und Bewohner des Lagers zu reservieren, so dass das Lager in wenigen Monaten geräumt sei. Klewes hielt erfolglos dagegen, dass dieses Vorhaben aus Gründen der Sozialarbeit in diesem Tempo nicht möglich sei. Jede einzelne Baracke sollte sofort nach Räumung abgerissen werden. Der GWG-Chef wies bei diesem Gespräch darauf hin, dass nicht alle „mieterunwürdigen“ Familien einen Mietvertrag erhalten könnten und infolge dessen weiter obdachlos blieben. Die Folge war dann wohl, dass die Stadt Kassel einige Miethäuser aufkaufte bzw. anmietete, wo einige Problemfamilien untergebracht werden konnten, die eine Miete selbst nicht bezahlen konnten.
Nachdem das Lager aufgelöst worden war, suchte sich Carla Klewes in Köln einen neuen Wirkungskreis. Sie starb am 14. Mai 2023 in Bad Kissingen.
Autor: Falk Urlen, August 2023
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Kurzbeschreibung
Carla Fischer, geb. Klewes, starb im Mai 2023 und verfügte, dass ein Ordner mit Aufzeichnungen und Zeitungsausschnitten nach ihrem Tod Falk Urlen für die weitere Verwendung in „Erinnerungen im Netz“ übergeben werden soll. Der Nachlassverwalter sandte diesen Ordner an den Autor.
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