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Die Jugenddame kimmet - Carla Klewes setzt sich für die Obdachlosen im Forstbachweg ein
- Autor: Falk Urlen
- Zeit: 1967
- Ort: Haus Forstbachweg
- Vom: 20.06.2023
- Themen: Fotos, Tonaufnahmen und Videos, Menschen erzählen
Seit 1967 war Frau Carla Fischer, geb. Klewes in Forstfeld als Sozialarbeiterin aktiv. Sie erlebte Ende 1967 die Aktion einer Illustrierten "Die armen Kinder von Kassel" und half, gespendete Pakete - vor allem aus der DDR - zu verteilen. Ab 1968 war sie für die Obdachlosen im "Lettenlager" am Forstbachweg zuständig, hier lebten mehr als 100 kinderreicheiche Familien. Sie erlebte, wie ungefähr 20 Familien leer stehende Häuser der "Belgiersiedlung" besetzten, was im Endeffekt zur Räumung des Lagers führte. Heute stehen auf diesem Gelände die gehobenen Mietwohnungen der GWG - das "Weiße Schloss".
Im Frühjahr 2011 lud Dr. Marc Urlen, der damalige „Stadtteilbotschafter“ für den Stadtteil Forstfeld für die Vorbereitung der Forstfelder Präsentation auf der 1100-Jahr-Feier Kassels u. a. die in den 60er Jahren zuständige Sozialarbeiterin – städtische Betreuerin für die Obdachlosen im „Lettenlager“ - zusammen mit dem ehemaligen Ortsvorsteher Falk Urlen, und Gerhard Hallaschka, Leiter der Joseph-von-Eichendorff-Schule in Bettenhausen zu einem Gespräch mit Carla Fischer ein. Das Gespräch wurde aufgezeichnet. Ausschnitte davon können hier noch einmal angehört werden.
Carla Klewes wurde in Kassel geboren und wuchs hier auch auf. Während des Krieges wurde sie im „Deichmann-Haus“, Brüder-Straße 2 verschüttet, sie machte in Kassel ihr Abitur, lebte einige Zeit in Paris, weil sie Romanistik studieren wollte, stellte aber fest, dass das nichts für sie war, genauso wenig wie Lehrerin. Sie zog dann nach Köln und studierte hier, um im Kasseler Osten Sozialarbeiterin zu werden, sie war zunächst im gesamten Gebiet Forstfelds, außer dem Forstbachweg, zuständig. Als eine Kollegin hier wegen der Gerüche, des Schmutzes und des Ungeziefers im Lager im Forstbachweg aufgab, übernahm Frau Klewes diesen Bereich. Sie arbeitete intensiv mit den beiden Forstfelder Schulen, der „Schule Am Lindenberg“ und der „Heinrich-Steul-Schule“ zusammen. Schulleitungen und die Lehrerkollegien unterstützten sie optimal. Aus dieser Zeit (1967 bis 1969) erzählt Carla Klewes im Interview.
Während der Zeit, in der Carla Klewes im Lager für Obdachlose am Forstbachweg arbeitete, wurde über dieses Lager mehrfach in der Öffentlichkeit diskutiert. Zum einen 1967, als in der Zeitung Neue Revue der Bericht über die „Kinder von Kassel“ erschien und noch einmal, als Rolf Hochhut seine Komödie „Die Hebamme“ schrieb und diese in mehreren deutschen Städten, u. a. auch in Kassel, aufgeführt wurde und zu bundesweiten Diskussionen über das Thema „Obdachlosigkeit“ führte. Einige Bewohner des „Lettenlagers“ hatten Häuser der „Belgiersiedlung“ an der Ludwig-Mond-Straße besetzt, um auf ihre Misere hinzuweisen. Diese Häuser gehörten der Bundeswehr, es waren Dienstwohnungen für belgische Soldaten gewesen, die in Kassel stationiert waren und die jetzt seit einem Jahr leer standen. Im Lager am Forstbachweg lebten ungerfähr 1000 Menschen, über 100 kinderreiche Familien, die auf dem normalen Wohnungsmarkt keine Wohnung finden konnten. Die Familien lebten in 27 Baracken in Zweieinhalb-Zimmer-Wohnungen auf ca. 70 qm. In den 50er Jahren waren das zwar begehrte Wohnungen gewesen, jetzt aber für Familien mit bis zu 12 Kindern unzumutbar. Für eine große Familie waren das 5 qm Wohnfläche pro Person.
Hochhut erklärte in einer Podiumsdiskussion gegenüber Carla Klewes, dass er schon seit längerem an diesem brisanten Thema arbeite und nicht erst seit der Häuserbesetzung in Kassel. Aber wahrscheinlich ist er durch die Besetzung der Belgier-Siedlung und das Auftreten der Sozialarbeiterin Klewes auf einige Ideen gekommen, die er dann in der Person der „Hebamme“ verarbeitete. Im Interview meinte Carla Fischer, dass sie die Wohnungsbesetzer nicht direkt aufgefordert habe, das hätte sie als Angestellte im öffentlichen Dienst auch nicht gedurft; innerlich aber habe sie diese Aktionen, die insbesondere von links gerichteten Studenten initiiert worden waren, durchaus befürwortet. Das hätten die Beteiligten natürlich auch gemerkt. Frau Klewes musste sich damals auch noch vor dem Kasseler Polizeipräsidenten Hille rechtfertigen.
In einem Rundfunkinterview am 10.03.2013 (Teaser-Bild) erklärte sie zu der Besetzung und Räumung der "Belgier-Siedlung":"Es war Krieg...Gandhi hat mal gesagt, man soll mit sanfter Gewalt auf Probleme der Menschen aufmerksam machen und ich denke, das ist genau der Punkt, Gesetze sind Gesetze - natürlich - aber es gibt auch Grenzfälle – und das war so ein Grenzfall".
Im April 2023 schrieb mir Carla Fischer kurz vor ihrem Tod: In Erinnerung an Rolf Hochhut sende ich Dir noch einige Unterlagen. Ich denke in schwierigen Situationen an ihn. Er begegnete mir persönlich 2 x, davon einst im Forstbachweg. Ich erlebte ihn sehr zugewandt, interessiert an meiner Tätigkeit, kritisch wegen der lokalpolitischen Bezüge und der sozialen Wirklichkeit der Bewohner. Bei ihm erhielt ich bei der 3 1/2stündigen Diskussion im Staatstheater am 19.06.72 positive Energien für mein Leben. Die Begegnung mit ihm verbindet mich bis heute - auch durch Sophie, die Hebamme!
Ich habe den fast dreistündigen Mitschnitt unseres Gesprächs von 2011 gekürzt und im Wesentlichen die Aussagen von Carla Fischer (geb. Klewes) wiedergegeben. Carla Fischer erzählt in diesem Gespräch, wie die Jugendlichen ihre Ankunft im Lager weitergegeben haben: „Die Jugenddame kimmet“, sagten sie.
Einige Namen, die im Interview genannt werden:
Dr. Branner: Oberbürgermeister von Kassel
Peter Habermehl: Chef der GWG (Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft der Stadt Kassel
Zudock: Schulleiter der Heinrich-Steul-Schule
Bouness: Schulleiter der Schule Am Lindenberg
Opper: Leiter der Heinrich-Steul-Schule
Frau Fischer wechselte dann 1972 nach Köln, wo sie sich wieder stark für die ärmere Bevölkerung engagierte, insbesondere bei einer Gasexplosion mit mehreren Toten. Die Köner BILD-Zeitung schrieb am 28.08.97 (Bild oben):
Menschen in Not
Haus Explosion: Frau Fischer kam, half und blieb. "Diese Frau ist die gute Seele der Krahestraße", schwärmt Marjan Dimitrievski (21)., ein Opfer der Haus-Explosion mit sechs Toten vom 24. Juli. Sie meint Carlra Fischer (59), städtische Sozialarbeiterin. "Als ich in der Nacht von dem Unglück hörte, bin ich sofort hingefahren", erzählt sie. "Ich hab' Verletzte versorgt, Angehörige beruhigt." Seitdem kam sie jeden Tag. "Ich hab' den Betroffenen geholfen, neue Wohnungen zu finden, mit dem Schock umzugehen, mache Mal-Therapien."
Ihr neuestes Projekt: in einer Stadt-Wohnung gegenüber der Explosions-Ruine hat sie die "Oase" eingerichtet, Treffpunkt für Krahestraßen-Opfer. Horst Stern (45), der bei der Explosion seine Frau verlor: "Ich wohne jetzt bei Bonn, aber ich werde oft kommen - Frau Fischer hat immer ein Ohr für mich."
Carla Fischer geht Weihnachten in den Ruhestand. Ruhestand? Frau Fischers Mutter ist ein Pflegefall.
Carla Fischer verbrachte ihren Lebensabend in Bad Kissingen und verstarb dort am 14.05.2023 im 86. Lebensjahr.
Autor und Redaktion: Falk Urlen, Juni 2023
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Kurzbeschreibung
Seit 1967 war Frau Carla Fischer, geb. Klewes in Forstfeld als Sozialarbeiterin aktiv. Sie erlebte Ende 1967 die Aktion einer Illustrierten "Die armen Kinder von Kassel" und half, gespendete Pakete - vor allem aus der DDR - zu verteilen. Ab 1968 war sie für die Obdachlosen im "Lettenlager" am Forstbachweg zuständig, hier lebten mehr als 100 kinderreiche Familien. Sie erlebte, wie ungefähr 20 Familien leer stehende Häuser der "Belgiersiedlung" an der Ludwig-Mond-Straße in Wehlheiden besetzten, was im Endeffekt zur Räumung des Lagers führte. Heute stehen auf diesem Gelände die gehobenen Mietwohnungen der GWG - das "Weiße Schloss".
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