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Die ersten Siedler der Forstfeldsiedlung
- Autor: Falk Urlen
- Zeit: 1934
- Ort: Forstfeld
- Vom: 28.11.2017
- Themen: Stadtentwicklung, Menschen erzählen
Gerhard Fieseler zog 1933 mit seinem Betrieb aus Ihringshausen in die leerstehenden Hallen in der vorderen Lilienthalstr. um. Seine Flugzeugwerke nahmen durch staatliche Aufträge einen rasanten Aufstieg, so dass das Unternehmen Wohnungen für Familien schaffen musste. So entstand in Betriebsnähe die "Fieseler-Siedlung" mit fast 500 Wohnungen. Nach ärztlicher und ideologischer Überprüfung der Bewerber wurden die Wohnungen an diese vergeben. Die Löhne waren nicht üppig, man konnte sich aber aus dem Garten ernähren. Ein Siedlerchronist schildert zum Schluss des Beitrags die ersten Jahre in der Siedlung.
Bis 1934 sagten sich auf dem Siedlungsgebiet der jetzigen Forstfeldsiedlung Fuchs und Hase Gute Nacht. Das Gelände wurde als Ackerland von Waldauer Landwirten genutzt. Bis 1916 war das Gebiet militärisches Übungsgelände, dann wurde die Munitionsfabrik in der vorderen Lilienthalstr. gebaut. 1933 war Gerhard Fieseler mit seinem Werk aus Ihringshausen in diese Hallen umgezogen; die Werke brauchten mehr Platz. Viele Aufträge vom Luftfahrtministerium gingen nun bei ihm ein, dazu waren Facharbeiter notwendig, die in ganz Deutschland angeworben wurden Im August 1935 beschäftigten die Fieseler-Werke 1200 Menschen, Wohnraum war in Kassel knapp. Gerhard Fieseler, der Kunstflugweltmeister, hatte immer eine sehr soziale Grundeinstellung seinen Mitarbeitern gegenüber, wahrscheinlich auch aus Eigennutz, denn zufriedene Arbeiter konnten konzentrierter arbeiten und waren in weniger Unfälle verwickelt, was bei Fieseler zu der damaligen Zeit ein großes Problem war. Die Menschen waren ohne ihre Familien nach Kassel gekommen, was langfristig von der Werksleitung nicht zu verantworten war. Aus der Betriebsordnung von 1939 geht hervor, dass der Urlaubsanspruch in den ersten 3 Jahren der Betriebszugehörigkeit 6 Tage im Jahr war, bis zum 11. Jahr stieg er dann auf 12 Tage an, d. h. für die Anfangsjahre, dass sich die Familien eigentlich gar nicht mehr sehen konnten.
Wohnungen mussten kurzfristig geschaffen werden. Da bot sich das Gelände in Betriebsnähe zwischen Waldau und Bettenhausen an. Von 1935 bis 1938 entstanden hier fast 300 Häuser mit ca. 500 Wohnungen unter der nationalsozialistischen Zielsetzung, den Menschen eine Heimat zu geben, damit diese im Falle eines Krieges „Gut und Blut“ einzusetzen gewillt waren („Blut-und-Boden-Ideologie"). Ab 1936 zogen die ersten Siedler in die Werkswohnungen ein, hier sollten sie sich erst einmal bewähren, bis ihnen die Einfamilienhäuser überschrieben werden konnten. Aber schon vor dem Einzug gab es Hürden zu nehmen, man brauchte einen „Siedlungsschein“, den erwarb man nach einer ärztlichen Untersuchung zur „Siedlungsfähigkeit“, man prüfte die physische und psychische Gesundheit, d. h. auch die politische Zuverlässigkeit im Sinne des Dritten Reichs, man musste einen „Ariernachweis“ erbringen (das war der Nachweis, dass man keine jüdischen Vorfahren hatte). Bevorzugt wurden solche Bewerber, bei denen die Ehefrau vom Land kam und mit Gartenbewirtschaftung und Kleintierhaltung vertraut war. Zunächst zahlten die Bewerber zwischen 26 RM (Reichsmark) für Wohnungen und 38 RM für Siedlerstellen als Mietzins. Sie richteten sich ihre Gärten ein. Alle mussten nach dem gleichen Plan bepflanzt werden, das Hühnerhaus stand in jedem Garten an der gleichen Stelle, Kleintierhaltung war zwingend vorgeschrieben und für Blumen war kaum Platz. Ein von Fieseler eingesetzter Gemeinschaftsleiter überprüfte, ob die Gartennutzung auch in der vorgeschriebenen Form eingehalten wurde. Für die Straße mussten sie 1 RM, für den Zaun 2 RM im Monat bezahlen.
Die normale Arbeitszeit betrug 48 Stunden in der Woche, dazu kamen noch die Überstunden, und danach erst ging die Arbeit auf dem Grundstück los: das Obergeschoss mussten die Siedler selber ausbauen und den Garten anlegen und bewirtschaften. Aber die Menschen waren jung und kräftig und die Ehefrauen trugen viel zum Gelingen bei.
Gerhard Fieseler zahlte, wie er in seinem Buch „Meine Bahn am Himmel“ schrieb, gute Löhne. Aus der Betriebsordnung von 1939 geht hervor, dass Facharbeiter je nach Alter zwischen 0,36 RM und 0,72 RM Stundenlohn erhielten, weibliche Gefolgschaftsmitglieder (damaliger Begriff für Mitarbeiter) zwischen 0,30 RM und 0,45 RM. Lehrlinge erhielten zwischen 3 RM und 11 RM (im 4. Lehrjahr) pro Woche „Erziehungsbeihilfe“. Es heißt aber, dass man bei Henschel damals wesentlich mehr verdiente, 1,36 RM ein Flugmotorschlosser.
Davon gingen wie heute die einzubehaltenden Beträge wie Lohnsteuer, Bürgersteuer, Erwerbslosenversicherung, Krankenversicherung, Invalidenversicherung bzw. Angestelltenversicherungaber auch die aufgrund der Betriebsordnung verhängten Geldbußen, Beträge aus Schadenersatzansprüchen der Firma gegen das Gefolgschaftsmitglied, KdF-Beiträge (Kraft durch Freude) ab. Dazu die Beträge, die von der Sektion „Gerhard Fieseler Werke" der A. O. K. Kassel als Strafen verhängt worden sind(?).
Was erhielt man für sein Gehalt? Ein Kilo Brot kostete 0,30 RM, Zucker 0,78 RM, Bohnenkaffee 4,80 RM, Rindfleisch 1,70 RM, Leberwurst 2,40 RM, Butter 3,20 RM, Mehl 0,44 RM, Eier 0,12 RM, Weißkohl 0,16 RM, Kartoffeln 0,08 RM und der Zentner Kohlen 2,05 RM, ½ L Bier 0,39 RM.
Paul Kempcke schrieb 1951 als Siedlungschronist über diese Zeit:
„Der Entstehung einer Siedlung voraus geht immer ein harter, schwerer Entschluß der beteiligten Männer und deren Frauen, sich von einer lieb gewordenen Stätte oder der alten Heimat zu trennen im Interesse der Familie. Nur Idealisten sehen mit ihren Augen auf dem Feld Häuschen, Bäume, Straßen und Blumen in ihrer Pracht stehen. Mit bewußter Freude gehen sie an die Riesenarbeit und versuchen sie zu bändigen, trotz mancher Enttäuschung, der Mann und die Frau! Und dann ist es eines Tages soweit, daß der Möbelwagen anrollt, daß die ersten Blumen blühen und die ersten Beeren reifen. Das Leben pulsiert mit all seiner Freud und all seinem Leid, seinem Stirb und Werde. Die folgenden Generationen aber sieht diese nun grünende und blühende Lebensstätte sehr oft nur mit kritischen Augen…
Oh je - das war Musik für die Ohren des Siedlers. Fensterläden, Fußabtreter und andere Kleinigkeiten mußten wegen Geldmangel bei Hessenheim ausfallen.
Die sogenannte Straße war eine vollständig verfahrene, unter Wasser gesetzte Berg-und Talbahn. Von hinten über die geplanten Gärten, kam man am schnellsten ans Ziel. Mit Handwagen, Pferdefuhrwerken oder Autos kamen die sogenannten Siedler mit ihren Habseligkeiten angerückt und so nach und nach waren die Fenster ohne Gardinen eine Seltenheit. Ein Zeichen dafür, daß im ersten Bauabschnitt alles bezogen war. Aber damit war noch keine Ruhe in der Siedlung eingekehrt. Im Gegenteil. Der tief ausgehobene Hofraum mußte aufgefüllt und fußfest gemacht werden, der Garten planiert werden. Die Kreuzhacke mußte geschwungen werden, um Steine und Bauschutt an den richtigen Platz zu bringen.
Da brachte uns eines Sonntagsnachmittags ein kräftiges Gewitter ein herrliches Hochwasser. Viele Siedler hatten sich einen Spaziergang gegönnt, um die Umgegend besser kennenzulernen, denn sie waren doch aus allen Gegenden zu uns gekommen. Bei der Rückkehr nach dem Gewitter konnte keiner ins Haus. Die tief ausgeschachteten Höfe lagen vollständig unter Wasser.
Dies flutete unter die Haustür zur Waschküche, um dort wieder im Kanal zu verschwinden. Das gab nasse Füße und viel Dreck und Arbeit. Ja, das ist Siedlerleben. Einige wenige waren enttäuscht davon und zogen es vor, uns wieder zu verlassen.
Aber die meisten haben standgehalten, Leiden und Freuden getreulich geteilt und sich fest zur Gemeinschaft zusammengeschlossen.
Der erste Leiter dieser Gemeinschaft war der SK Albert Bolender, der uns mit allem Zubehör versorgte: Torf, Kunstdünger, Staketen, Farbe usw. Gewiß, es kostete alles wieder Geld - aber alle Siedler waren ja Fieselaner"…
Und als das Ernten im Garten losging, gab es manche blanke Augen. Jeder wollte in Haus und Garten sein möglichstes tun. Dann kam der Wettbewerb des Herrn Fieseler, bei dem der eine oder der andere als Anerkennung seiner Arbeit einen Preis erzielte. Um den Garten aber leistungsfähig zu erhalten, mußte Mist verabreicht werden. Um diesen zu erzielen und die vielen Gartenabfälle nutzbringend zu verwerten, begannen viele Siedler mit der Kleintierzucht. Hühner, Kaninchen, Ziegen und Schweine ergänzten das Siedlungsbild und mancher Siedler wurde fanatischer Kleinbauer. So wäre ja alles in schönster Ordnung gewesen, wenn nicht der Krieg im Jahre 1939 mit all seinen Begleiterscheinungen auf den Plan getreten wäre. An einem Sonntag gab es plötzlich Lebensmittelmarken und - Karten und ab sofort war alles rationiert, auch Spinnstoffe und Lederwaren.
Stellungsbefehle erreichten zunächst die wehrfähigen Söhne der Siedler, aber auch mancher Familienvater mußte seinen Rock mit dem feldgrauen tauschen. Es kam die Zeit der Sondermeldungen: Sieg, Sieg, Sieg, aber es kamen auch kleine unscheinbare Briefe mit schwerem Inhalt an ihr Ziel "fürs Vaterland gefallen!"…
Dann kamen feindliche Flieger-Angriffe. Die ersten Bomben fielen.
In den Waschküchen, Kellern und unter den Treppen erhoffte man Schutz dagegen. Der sogenannte "Luftschutz" regierte. Der Ton der Luftschutzsirenen war schauderhaft. Wie im Ameisenhaufen liefen beim Alarm Männer, Frauen und Kinder, bepackt mit den wertvollsten Notwendigkeiten, in den verdunkelten Straßen umher. Einer rannte gegen den anderen und einer suchte den anderen. "Licht aus " rief eine starke Stimme und gar oft zitterte der Boden, wenn wieder eine Bombe ihr schicksalhaftes Ziel erreichte. Dann wurden kleine Betonbunker gebaut. Manche Familie verließ unsere Gefahrenzone I und zog in kleine abgelegene Dörfer oder sie brachten ihre Habseligkeiten dahin. Die großen Luftangriffe auf Kassel krönten dann das Werk der Vernichtung. Schonungslos wurde der Krieg gegen die wehrlose Bevölkerung geführt. Es war eine schreckliche Zeit. Die Friedhöfe waren zu klein und ganze Familien wurden ausgerottet. Ganz Kassel blutete und auch unsere Siedlung blieb nicht davon verschont.“
Redaktion: Falk Urlen, November 2017
Literatur:
- Falk Urlen; 70 Jahre Siedlergemeinschaft Forstfeld
- Betriebs-Ordnung der Gerhard Fieseler Werke GmbH Kassel, 1939 (Sammlerin Hildegard Spitzer)
- Chronik der SG Forstfeld
Bilder:
- Siedlergemeinschaft Forstfeld
- Betriebsordnung (s. o.)
- [Kasseler Post 24.11.35]
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Kurzbeschreibung
Gerhard Fieseler zog 1933 mit seinem Betrieb aus Ihringshausen in die leerstehenden Hallen in der vorderen Lilienthalstr. um. Seine Flugzeugwerke nahmen durch staatliche Aufträge einen rasanten Aufstieg, so dass das Unternehmen Wohnungen für Familien schaffen musste. So entstand in Betriebsnähe die "Fieseler-Siedlung" mit fast 500 Wohnungen. Nach ärztlicher und ideologischer Überprüfung der Bewerber wurden die Wohnungen an diese vergeben. Die Löhne waren nicht üppig, man konnte sich aber aus dem Garten ernähren. Ein Siedlerchronist schildert zum Schluss des Beitrags die ersten Jahre in der Siedlung.
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