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"Die Kinder von Kassel"
- Autor: Falk Urlen
- Zeit: 1967
- Ort: Schule Am Lindenberg
- Vom: 15.04.2023
- Themen: Stadtentwicklung, Schulen und Kindergärten
Bei der Recherche für eine Anfrage des Kasseler Staatstheaters nach Unterlagen zur Häuserbesetzung in der „Belgier-Siedlung“ u. a. durch die Bewohner der Obdachlosen-Baracken im Forstbachweg, dem sog. „Lettenlager“, stieß ich auf eine umfangreiche Sammlung der ehemaligen Sozialarbeiterin Carla Klewes (gestorben am 14.05.2023), heute Carla Fischer, die sie mir 2013 übergab. Diese Sammlung enthält Zeitungsausschnitte aus der Illustrierten Neue Revue (siehe Anlage) und der Kasseler Tageszeitung (Heute: HNA).
1967 ermittelte der Kasseler Magistrat, dass an der Schule Am Lindenberg von 523 Grundschulkindern 264 unterernährt waren, also mehr als die Hälfte. 200 Kinder erhielten höchstens zweimal in der Woche ein warmes Essen. Das nahm die Illustrierte „Neue Revue“ zum Anlass, kurz vor Weihnachten 1967 einen mehrseitigen Artikel zu veröffentlichen. Der geschilderte Grundgedanke war: "Wir regen uns auf über verbrannte Kinder in Vietnam und hungerleidende Kinder in Afrika und Indien, unterstützen diese dort mit Entwicklungshilfegeldern, und bei uns leben Kinder in Baracken, schlafen in viel zu engen Betten mit mehreren Geschwistern, kommen hungrig in die Schule und bekommen selten ein warmes Mittagessen. Wir sollten uns mehr um das Entwicklungsland Deutschland kümmern!"
Der Bericht endete mit dem Aufruf, Geld und Geschenke für die notleidenden Kinder an die Schule zu schicken. Und die kamen dann auch massenhaft, die Schule konnte diese Menge kaum noch ordentlich bearbeiten und verteilen. Viele Pakete kamen aus der DDR, wo diese Nachricht natürlich gerne aufgenommen und veröffentlicht worden war. Auch aus Kanada und Australien, wo der Bericht auch nachgedruckt worden war, erreichten die Lindenbergschule Pakete.
Wie konnte es zu diesen Verhältnissen kommen? Das Lager stammte noch aus dem Dritten Reich, hier brachte die Firma Junkers zunächst ihre Arbeiter und später ihre Zwangsarbeiter unter. Nach 1945 wurden hier wurzellose Menschen aus dem Baltikum untergebracht (Lettenlager), in den 50er Jahren waren hier begehrte Wohnungen, in die ab Ende der 50er Jahre immer mehr kinderreiche Familien, die keine Wohnung fanden, eingewiesen wurden. In den 60er Jahren wurden dann nach und nach andere Kasseler Lager aufgelöst und die verbleibenden Familien dem Forstbachweglager zugewiesen. In einer Statistik von 1969 wurde festgestellt, dass das 55 Familien waren, davon allein 21 aus dem Lager in den Lossewiesen, dem "Dschungel". Die Familien hatten durchschnitlich 7,6 Kinder, die die in der Zeitschrift geschilderte hatte 13.
Viele der Menschen, die hier wohnten, hatten es nie gelernt, ihr Leben zu organisieren. Wie ein Kommentator schrieb, gab es schon Möglichkeiten, hier einen Garten anzulegen, aber stattdessen entwickelte sich hier eine große Müllhalde, in der die Kinder spielten. Das Lager wurde zu einer "NoGo-Area", weil es nicht sicher war, es zu durchqueren. Fast täglich musste die Polizei eingreifen, wenn es dort zu handfesten Streitigkeiten kam.
Berd Rohde schreibt 1967 in seiner Diplomarbeit "Der Forstbachweg 16 ("Lettenlager") als Lebensstätte von Sonderschülern" u. a.: Von den untersuchten 70 Kindern waren 11 unehelich geboren, 7 davon aus rentenrechtlichen Gründen, so dass es eigentlich gar nicht so viele waren. Bei der Pflege sah es schon schlechter aus. 1/3 der Kinder kamen meistens ohne Frühstücksbrot in die Schule. Zwei Drittel der Kinder bekamen zu Hause ein warmes Mittagessen, wenn es auch oft nur eine Suppe war. Fast die Hälfte der Kinder kam mit verschmutzter Kleidung in die Schule, Die Körperpflege war bei 2/3 der Kinder zu beanstanden. Nur 30 % der Kinder bekamen zu Hause keine Schläge, über die Hälfte der Kinde bekamen mehr oder weniger regelmäßig Schläge. Die Sonderschule war ja 1964 mitten in das Lager gebaut worden, dennoch kamen viele Kinder immer wieder mehrere Minuten zu spät zur Schule. Hausaufgaben konnten von den Kindern nicht ungestört erledigt werden, oft haben sie dazu auch gar keinen festen Platz in der Wohnung. Eltern kontrollieren schon, ob die Aufgaben erledigt wurden, aber nicht die Qualität. Ihre Freizeit verbringen die Kinder draußen im Lager, bei Regenwetter in der Wohnung. Hier werden Gesellschaftsspiele gespielt, draußen wird mit dem Ball gespielt, die Mädchen spielen lieber mit Puppen. Taschengeld erhalten nur die Hälfte der Kinder, und das oft nur unregelmäßig. Einige Kinder fielen schon "kriminell" auf wegen Diebstahl, Unterschlagung oder Sachbeschädigung. Eine Mutter gebahr ihr Kind mit 13, 25 % der Mütter bis zum 18. Lebensjahr. Insgesamt besuchten von den 214 Kindern 102 die Sonderschule, 45 die Volksschule, 65 Kinder waren noch nicht schulpflichtig. Eine weiterführende Schule wurde von keinem der Kinder besucht. Nur knapp 80% der Kinder haben ein eigenes Bett, kein Bewohner hat ein Zimmer für sich. Das Einkommen der Eltern bewegte sich zwischen 71 DM und 250 DM, durchschnittlich betrug es 160 DM.
Das war natürlich sowohl für den Magistrat als auch die hier arbeitenden Sozialarbeiter*innen ein großes Problem. Hier in Forstfeld konzentrierten sich nun die sozialen Probleme der Stadt und das Praktische dabei war, dass die Forstfelder Bürger*innen das alles so hinnahm, es war halt schon immer so. Ich war gerade nach Kassel gezogen und kaufte 1971 in Forstfeld ein Haus und wusste von der schleichten Beleumundung dieser Gegend noch nichts, erst als ich es meinen Schüler*innen erzählte meinten diese: "Was, in die Afrika?". Für Kasseler war das eine Ungegend. Ich aber habe das nicht bereut und hatte später als Ortsvorsteher die Möglichkeit, alles etwas zum Guten und Besseren zu wenden.
Ende der 60er Jahre waren aber auch für die Lagerbewohner, aber auch für die Soziealarbeiter*innen die Probleme mit dem beengten Wohnraum und dem Umfeld so groß geworden, dass ein Funke reichte, um etwas zu passieren. Der Funke war die Belgiersiedlung in Wehlheiden, hier standen schon über Monate hinweg nach Abzug der belgischen Soldaten die Wohnhäuser leer, in denen diese gewohnt hatten. Linke Gruppierungen prangerten das schon länger an und ermutigten Studenten aktiv, diese Häuser zu "besetzen".
Helmut Kleinert, der spätere Hausmeister im Haus Forstbachweg, schildert in einem Interview, was nun geschah:
"Eines Tages kam dann die Sozialarbeiterin Klewes zu mir, mit der sich meine Familie angefreundet hatte, und sagte: "Du Kleinert, die Belgiersiedlung im Auefeld mit ihren schönen Räumen steht leer, lass uns doch mal hochfahren und sie mal ansehen!" Gesagt, getan, ich drückte dort einfach so auf eine Kellertürklinke, und siehe da, die Tür war offen. Eine Wohnung vom Feinsten. Von einem Freund liehen wir uns einen VW-Bus und zogen einfach so mit der ganzen Familie in diese Wohnung ein, natürlich ohne Genehmigung, im Grunde aber auf Vorschlag und Billigung der Sozialarbeiterin. Ich sprach auch mit anderen Bewohnern des Lagers, viele trauten sich erst nicht, aber dann waren doch 10 - 12 Häuser der Belgier-Siedlung von uns besetzt. Diese Aktion wurde von der Polizei bemerkt und weitere Zuzüge wurden verhindert. Wir machten uns die Wohnungen richtig schön zurecht und genossen die zwei Bäder in den Häusern. Ich brachte in dem VW-Bus morgens die Kinder nach Forstfeld zur Schule. Wir waren keine Kriminellen, natürlich war das Unrecht, was wir machten, aber in dieser Notsituation habe ich das nicht als Vergehen oder Verbrechen gesehen. Hier im Lager herrschte beengter Wohnraum und dort standen ganze Häuserzeilen, die dem Bund gehörten, leer. Man stellte uns dann recht bald Strom und Wasser ab. Die Besetzer machten mich zu ihrem Sprecher. Nachdem sich die damalige Jugendamtsleiterin Anneliese Wolf über die Situation in der Belgiersiedlung informiert hatte, wäre es auch ihr Wunsch gewesen, dass wir hier hätten bleiben können. Wir besuchten darauf hin Oberbürgermeister Karl Branner, sein Referent war damals Hans Eichel. Strom und Wasser wurden danach wieder angestellt. Das erkenne ich diesen Männern heute hoch an, sie haben unsere Not gesehen und uns nicht als Schwerverbrecher behandelt."
Nach so viel Aufmerksamkeit in der Presse konnte der Magistrat nicht mehr ruhelos dem Treiben im Forstbachweg zusehen: 1968 erhielt die Heinrich-Steul-Schule einen Anbau, Räume in Baracken wurden zusammengelegt, wenn Bewohner auszogen, hier entstand dann das Haus Forstbachweg als Haus der Offenen Tür, eine vollkommen verwahrloste Wohnung wurde ausgeräumt, die Möbel vernichtet und daneben eine Wohnung mit neuen Möbeln ausgestattet. Hier gab es viele Schaulustige, eine von ihnen wird zitiert: "Arm zu sein ist keine Schande, ab er sauber kann auch eine geflickte Hose sein". Heute frage ich natürlich: "Wirklich? - mit 13 Kindern und kaum Geld?" 1969 wurde dann auf dem Lindenberg für 750000 DM eine neue Tagesstätte für ca. 100 Kinder geschaffen. OB Branner regte 1969 an, auf dem Barackengelände ein Sozialzentrum zu bauen, was dann 1975 auch geschah. Es erhielt wieder den Namen: "Haus Forstbachweg". 1971 wurde dann beschlossen, dass das "Lettenlager" ganz verschwinden soll und ein Architektenwettbewerb wurde für eine neue Bebauung ausgeschrieben.Die GWG brachte bis 1972 64 der Familien unter, so dass das "Lettenlager" 1972 vollkommen geräumt war und abgerissen werden konnte. In aller Stille - ohne Grundsteinlegung - begann dann im März 1973 das Zehn-Millionen-Projekt des "Weißen Schlosses" in der neu geschaffenen Heinrich-Steul-Straße im Stadtteil Forstfeld, wo 1000 Menschen Unterkunft fanden.
Editor: Falk Urlen, April 2023
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Kurzbeschreibung
1967 erschien in der Zeitschrift "Neue Revue" ein Artikel über die "Kinder von Kassel". Hier wurde das Los der Kinder in der Obdachlosen-Siedlung am Forstbachweg geschildert. Hunderte Geschenkpakete kamen daraufhin in die Schule Am Lindenberg für diese Kinder an, viele aus der DDR. Weitere Aufmerksamkeit erhielten die Bewohner, als einige von ihnen, mit Hilfe der Sozialarbeiter, die leer stehenden Häuser der Belgier-Siedlung in Wehlheiden "besetzten". Danach waren die Behörden im Zugzwang. In den 70er Jahren wurde das Lager endgültig geräumt, die Baracken entfernt und auf dem Gelände ein Wohnkomplex für ca. 1000 Menschen geschaffen - das Weiße Schloss in der neuen Heinrich-Steul-Straße.
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