Logo von Erinnerungen im Netz

Die Reise nach Föhr

Fahrradgruppe des CVJM-Wartburg auf Fahrt

Fahrradgruppe des CVJM-Wartburg auf Fahrt
Foto: B. Schaeffer, Kassel

Im Juli 1959 starteten drei Sippen des CVJM Wartburg Bettenhausen und Mitglieder des Posaunenchores zur großen Fahrt mit dem Fahrrad in fünf Tagen nach Hamburg und dann weiter mit dem Schiff nach Wyk auf Föhr. Als Mitglied des Vereins und mit knapp 16 Jahren voller Tatendrang und Abenteuerlust meldete ich mich zur Teilnahme an. Es war meine erste Radtour ohne meine Eltern und ist mir bis heute unvergessen geblieben. Mehr als sechzig Jahre später (2022) habe ich den Versuch unternommen, mich an Einzelheiten dieser Reise zu erinnern, sie unter Zuhilfenahme des Internets zu rekonstruieren und mit Bildern zu ergänzen.

Der 1919 gegründete CVJM Wartburg e.V. ist in Bettenhausen traditionell sehr eng mit der Evangelischen Kirche verbunden. Und so war es guter Brauch, dass die Jungen nach ihrer Konfirmation Mitglied in der Jungenschaft wurden. Die Jungenschafts-Mitglieder des CVJM Wartburg waren in drei Gruppen, sogenannte Sippen, gegliedert. Dies waren: die „Tigersippe“ in der Eichwaldsiedlung, die „Welfensippe“ im Forstfeld und die „Adlersippe“ in Bettenhausen. Am 1. April 1958 wurde ich Mitglied in der „Adlersippe“ und bin bis zum heutigen Tag Mitglied im CVJM Wartburg geblieben.

Mein Jungschaftsausweis von 1958
Mein Jungschaftsausweis von 1958  Foto: B. Schaeffer, Kassel

In den 1950er Jahren war der Besitz eines Fahrrades der Marke Sigurd schon ein Herausstellungsmerkmal und das Rad wurde von mir nicht nur zum Besuch der Schule, sondern auch in der Freizeit vielfältig genutzt.

Sigurd Tourenrad Baujahr 1935
Sigurd Tourenrad Baujahr 1935  Foto: Sigurd Katalog, Digitalisat Schaeffer

Als im Jahr 1959 der in der Kirchengemeinde ehrenamtlich wirkende Arno Lanatowitz die Reise „mit dem Fahrrad nach Hamburg und weiter mit dem Schiff nach Wyk auf Föhr“ ankündigte, habe ich mich mit Zustimmung meiner Eltern sofort angemeldet. Sehr schnell stellte ich fest, dass eine so lange Reise gut geplant und vorbereitet werden muss.
Mein Sigurd-Fahrrad, ein Vorkriegsmodell und „Fundstück“ vom Bodenraum des Nachbarhauses in der Eichwaldstraße, war sehr stabil (schwer!), hatte aber keine Schaltung. Die Annahme, dass ein Großteil der Strecke der geplanten Tour durch das Flachland der Heide und die Niederungen Norddeutschlands führe, brachte mich auf eine Idee, wenn ich schon keine Gangschaltung hatte, dann sollte wenigstens auf der Hinterachse ein 16er Ritzel als lange Übersetzung montiert sein. So wollte ich Vorsorge treffen, um bei der zu erwartenden flotten Fahrt meiner Mitreisenden folgen zu können

Brotbeutel, Luftmatratze und Schlafsack als Ausstattung
Brotbeutel, Luftmatratze und Schlafsack als Ausstattung  Foto: Fotomontage B. Schaeffer

Aus heutiger Sicht war auch die weitere Ausrüstung vorsintflutlich und von den Restbeständen der Wehrmacht des 2. Weltkriegs geprägt. Für den täglichen Proviant und sonstige wichtige Reisedokumente erstand ich einen Brotbeutel aus Segeltuch, den man mit Schlaufen am Lenkrad befestigen konnte. Als Regenschutz lieferte der CVJM eine knöpfbare, imprägnierte Baumwollplane, die zum Übernachten mit einem zweiten Teil verbunden werden konnte und so zum Firstzelt (der sogenannten „Dackelgarage“) wurde. Meine neue rot/blaue Gummiluftmatratze aus dem Werksverkauf der Firma WEGU hatte die stolze Breite von 78 cm und eine Länge von 1,90 m. Der olivgrüne Schlafsack aus Baumwolle trug damals noch keine Angaben für welche Temperaturen er gefertigt worden war, hat aber immer ausreichend gewärmt. Der Glanzpunkt meiner Ausrüstung war ein Tornister aus dem 2. Weltkrieg, der wegen seiner Fellabdeckung aus Pferdefell auch „Affe“ genannt wurde. Dazu kam eine filzummantelte Aluflasche mit Trinkbecher für kalte und warme Getränke. Ich habe diese zusammengesuchte Ausrüstung nicht gewogen, rückblickend kann man aber von etwa 25 – 30 kg Gesamtgewicht ausgehen.
 

Firstzelt für 2 Personen (Dackelgarage)
Firstzelt für 2 Personen (Dackelgarage)  Foto: Stadtteilzentrum Agathof e.V.

So ausgestattet fühlte ich mich gut gerüstet und wartete mit Spannung auf den Tag, an dem uns A. Lanatowitz, auch achtungsvoll „Trainer“ genannt, die Einzelheiten der Tour vorstellen würde.

A. Lanatowitz mit einem Lloyd LT500 auf dem Erlenfeldanger
A. Lanatowitz mit einem Lloyd LT500 auf dem Erlenfeldanger  Foto: Fotomontage B. Schaeffer, Kassel

Die Zielsetzung bestand darin mit fünf Gruppen zu je sechs Teilnehmern in fünf Etappen die Hansestadt Hamburg zu erreichen. Die Aufteilung in Kleingruppen hatte den Sinn, dass im Falle einer Fahrradpanne oder sonstiger Zwangsaufenthalte nicht immer alle 30 Teilnehmer auf die Reparatur warten mussten und so einen Zeitverlust gehabt hätten. Der Plan war gut, denn es sollte sich zeigen, dass ein Plattfuß pro Tag in jeder Gruppe üblich war. Alle Teilnehmer trafen sich abends am Etappenziel und bekamen gemeinsam eine „warme“ Mahlzeit. Damit das möglich war, fuhr Arno Lanatowitz mit seinem Lloyd LT 500 voraus und richtete den Biwak-Platz ein. In dem kleinen, busartigen Auto wurde alles verstaut was nicht auf die Fahrräder passte. Tagsüber, während der Fahrt war Selbstverpflegung angesagt.

Die Fahrstrecke führte über wenig befahrene Land- und Nebenstraßen, was, unter dem Blickwinkel, dass in 1960 in Westdeutschland nur ca. 8 Mill. Pkw zugelassen waren, sich relativ leicht einhalten ließ. Für die Zwischenübernachtungen wurden Campingplätze und andere preisgünstige Unterkünfte (z.B. eine Scheune) angesteuert.

Und so verliefen die fünf Etappen.

1. Tag: Treffen auf dem Dorfplatz in Bettenhausen, Zusammenstellung der Kleingruppen unter Leitung eines älteren Jugendlichen, Start in Sechsergruppen, über Fuldatal, Ihringshausen, Holzhausen/Reinhardswald, Gottsbüren, Trendelburg nach Karlshafen auf den Campingplatz, Abendverpflegung? Vielleicht Nudeln mit Gulasch oder andere „Köstlichkeiten“, das hat sich an den folgenden Tagen nur wenig geändert. Fahrstrecke: ca. 55 km

Besonderheit: Meine Kalkulation mit den norddeutschen Flachstrecken und großer Übersetzung (s.o.) ging schon an der ersten langen Steigung von Holzhausen zum Udenhäuser Stock im Reinhardswald nicht auf. Meine Rettung war ein Schlepper mit leerem Langholzanhänger an dem ich mich verbotenerweise festhielt und so die davoneilende Gruppe wieder einholen konnte.

2. Tag: Nach komatöser Nacht, Start mit schmerzendem Hinterteil, entlang der Weser ohne nennenswerte Steigungen über Höxter, Holzminden, Bodenwerder nach Hameln auf den Campingplatz an der Weser. Abendverpflegung wie oben erwähnt. Fahrstrecke: ca. 85 km.

Besonderheit: Direkt an der Strecke lag ein kleiner Milchladen. Dort konnten wir frische, aus der Kanne geschöpfte Milch kaufen, was wir auch reichlich genutzt haben.

3. Tag: Flussniederungen bieten eine feuchte Herberge, deshalb fühlte sich am anderen Morgen alles was wir anfassten ziemlich klamm an. Aufsitzen mit immer noch nicht eingewöhntem Hintern. Start in Richtung Steinhude am Steinhuder Meer über Bad Münder und Bad Nenndorf. Für kulturelle Ausflüge blieb bei drei Plattfüßen wenig Zeit, Ankunft als letzte Fahrgemeinschaft in Steinhude. Das gemeinsame Bad im Steinhuder Meer war eine Erfrischung, musste aber wegen eines aufziehenden Gewitters frühzeitig abgebrochen werden. Fahrstrecke: ca. 55 km.

Besonderheit: Übernachtung in einer Scheune mit frischem Stroh, die untergelegte Zeltplane bot wenig Schutz gegen die piekende Spreu, wurde aber als eine besondere Erfahrung nie vergessen.

4. Tag: Nach nur wenig Schlaf starteten wir nach Soltau. Entlang der Baumalleen zwischen den Heidedörfern gab es immer wieder auch sogenannte Sommerwege, die wir wegen der geringeren Erschütterung bevorzugten. Die Strecke führte über Schwarmstedt und Bad Fallingbostel auf einen Campingplatz in der Nähe von Soltau. Fahrstrecke: ca. 80 km.

Besonderheit: Es war unser schwierigster und längster Tag. Beim Versuch vom Sommerweg auf die gepflasterte Straße zu kommen, sind bei einem Teilnehmer wegen der hohen Belastung 4 oder 5 Speichen des Hinterrades gebrochen. Die Folge war, wir zwei (Freund Wilfried und ich) nahmen das Gepäck vom Rad und fuhren 3 km voraus ins nächste Heidedorf. Zum Glück hatte die Landmaschinenwerkstatt wegen der vielen Radfahrer im Dorf auch passende Fahrradspeichen. Zurückfahren, Speichen einziehen, Hinterrad zentrieren, aufsatteln und mit dreistündiger Verspätung weiterfahren.

5. Tag: Ein letztes Mal, Zelte abbauen Gepäck aufs Rad und Start in Richtung Hansestadt Hamburg. Über nun wirklich flache Strecken vorbei an Buchholz in der Nordheide über die Elbbrücken zum Campingplatz in der Nähe von Hagenbecks Tierpark. Fahrstrecke: ca. 75 km.

Besonderheit: Einmaliges Erlebnis und unvergessen die Fahrt mit dem Rad über die großen Elbbrücken. Fällig ist eine dicke Entschuldigung an meine damals in Hamburg wohnende Tante Lotte, die wir (sechs an der Zahl) unangemeldet an einem sonnigen Nachmittag, nach langer Fahrt mit freiem Oberkörper, heimgesucht haben. Sie hat diese Herausforderung mit einer kräftigen Suppe für uns alle hervorragend gemeistert, aber noch lange davon erzählt.

In fünf Tagen und etwa 24 Stunden reiner Fahrzeit hatten wir nach mehr als 350 Kilometern die Hansestadt Hamburg erreicht. Alle 30 Teilnehmer waren gesund angekommen und die Räder waren noch fahrbereit, insgesamt eine ausgezeichnete Bilanz.

Wappen von Hamburg beim Ausbooten vor Helgoland
Wappen von Hamburg beim Ausbooten vor Helgoland  Foto: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Wappen_Von_Hamburg_(1)_in_1958.jpg

Am sechsten Tag hieß es noch einmal Aufsitzen und quer durch Hamburg zur St. Michaeliskirche, auch Michel genannt, fahren, dort das Gepäck abnehmen und die Fahrräder in den Katakomben der Kirche für die nächsten acht Tage abstellen. Mit voller Ausrüstung, (jetzt erst stellte ich fest, was ich alles mitgenommen hatte und wie schwer es war), zu Fuß zu den Landungsstegen an der Elbe auf das Seebäderschiff „Wappen von Hamburg“. Loslegen und elbeabwärts nach Helgoland, Ausbooten und Umsteigen auf ein Fährschiff der Adler-Reederei zur Insel Sylt, vom Hafen-Hörnum Ablegen in Richtung Wyk auf Föhr. Ankunft am späten Nachmittag. Meine Gedanken heute, wie konnte der „Trainer“ dies alles so perfekt organisieren, ohne Handy und Internet?

Das Carl-Hunnius-Internat in Wyk
Das Carl-Hunnius-Internat in Wyk  Foto: https://de.wikipedia.org/wiki/Carl-Hunnius-Internat

Unser Quartier für die nächsten sieben Tage war das Carl-Hunnius-Internat im ehemaligen Haus Nordmark in der Gmelin Straße in Wyk auf Föhr. Diese Schule verstand sich als Nachfolgeinstitution der Baltenschule in Misdroy und war nach dem langjährigem Direktor Carl Hunnius (1873-1969) benannt worden. Nach fast 15stündiger Reise mit vielen neuen Eindrücken bezogen wir unseren Schlafraum.
Mit Luftmatratze und Schlafsack (das war uns von unserer Radtour her schon geläufig) schliefen wir mit je 16 Jungen auf dem Fußboden von zwei großen Klassenräumen in Baracken aus dem Zweiten Weltkrieg. Die sogenannten „Sanitären Anlagen“ befanden sich im Gebäude auf der anderen Seite des Schulhofs. Warmes Wasser war nicht vorhanden, was die Zeit der täglichen Körperpflege deutlich verkürzte.
Der Südstrand lag in Laufentfernung und auch die Promenade in Wyk war fußläufig zu erreichen. In den nächsten Tagen haben wir uns von den Strapazen der Radtour erholt. Heute würde man sagen „gechillt“. Wilfried und ich gehörten in dieser Zeit der Sportgruppe des Westbundes an und hatten ein Jahr zuvor eine Turnriege zusammengestellt, mit der wir auch an verbandsinternen Wettkämpfen teilnahmen. Sehr schnell fanden wir Spaß daran, unsere Bodenturnübungen am Strand zu trainieren, weil der weiche Sand die Verletzungsgefahr auch ohne Matten entschärfte. Das Schwimmen im nicht immer wohltemperierten Wasser der Nordsee diente der Erfrischung.

Bei einem Besuch des Südwalls, der Promenade in Wyk, fiel uns am Hotel „Atlantis“ eine Tafel ins Auge, dort wurde zu einem JeDaMi-Abend eingeladen. Beim genaueren Hinsehen stellte sich heraus, was JeDaMi heißen sollte, jeder darf mitmachen. Schnell wurden wir, Sportsfreund Wilfried und ich, uns einig, da wollen wir dabei sein, denn schließlich war der erste Preis des Abends ein Rundflug über die Nordfriesischen Inseln. Nachdem wir die Zustimmung des Trainers eingeholt hatten, meldeten wir uns in der Rezeption des Hotels „Atlantis“ an und wurden zu unserer Überraschung auch angenommen. Die folgenden Tage waren gekennzeichnet vom harten Training am Strand. Unser Programm bestand aus Bodenturnelementen, die wir auch für den Wettkampf schon trainiert hatten. Was wir noch brauchten war eine Choreographie für einen Auftritt von etwa zehn Minuten. Aus einer Folge von Radschlagen, Flickflack (Handstützüberschlag rückwärts), Salto vorwärts und rückwärts, Handstand, Flugrollen und Grätschen bis zum Spagat versuchten wir unseren Auftritt vorzubereiten. Was uns fehlte war ein Sprungbrett.
Endlich war es soweit, mit dem besten Outfit, dass nach zehntägiger Fahrt noch vorhanden war, machten wir uns auf den Weg ins Hotel „Atlantis“. Bis zum Auftritt blieben wir im Backstage hinter der kleinen Bühne und vertrieben uns die Zeit mit Aufwärmen und Stretching (ich weiß nicht, ob das in jener Zeit auch schon so genannt wurde). Dann waren wir an der Reihe, barfuß, mit Badehose und freiem Oberkörper standen wir auf der Bühne und der Vorhang wurde zur Seite gezogen. Vor uns ein Saal voller gut gekleideter Menschen an reichlich gedeckten Tischen, die gespannt waren, was die „Akrobaten“ von der Fulda wohl zu bieten hätten. Um es kurz zu machen, wir gaben alles und das in beachtenswerter Performanz. Am Ende, freundlicher Applaus und als Zugabe sprangen wir noch einen Flickflack, dann schloss sich der Vorhang. Wir waren davon überzeugt, dass wir den Urlaubern im Saal eine unterhaltsame Kür gezeigt hatten. Erleichtert warteten wir hinter der Bühne und aßen erst jetzt von den angebotenen Schnittchen und tranken reichlich von den spendierten alkoholfreien Getränken. Nach einer gefühlten Ewigkeit waren die abgegebenen Stimmzettel der Zuschauer ausgewertet. Wir, die „Fulleakrobaten“ hatten den ersten Preis, zwanzig Minuten-Rundflug über die nordfriesische Inselwelt, gewonnen. Große Freude und Begeisterung stellte sich ein und wir kehrten voller Stolz zu unserer Gruppe im Internat zurück. Es lag nun an uns, den Flug in den restlichen Urlaubstagen noch anzutreten.
Als der Termin feststand, vertraute mir Wilfried an, dass er Flugangst habe und deshalb nicht mitfliegen werde. Er hat seinen Gutschein verschenkt, und ein anderer Junge aus der „Adlersippe“ hat sich am nächsten Tag voller Freude dem Gang zum Feldflugplatz angeschlossen. Dort wurden wir kurz in die Verhaltensweisen im Flugzeug eingewiesen und dann ging es „an Bord“ der geparkten Dornier Do 27, einem einmotorigen Hochdecker mit sechs Sitzplätzen. Mit ohrenbetäubendem Lärm rumpelte die Maschine über die Grasnarbe des Feldflugplatzes und als es ruhiger wurde, hatte die kleine Maschine schon abgehoben. Es war mein erster Flug und ich werde das Gefühl der Freiheit während des Fliegens nie wieder vergessen. In geringer Höhe und in großen Schleifen, immer ein wenig in Seitenlage für die bessere Sicht auf das Wattenmeer, die Inseln und Halligen, zog das Flugzeug seine Runden. Wir hatten wunderbares Flugwetter und ich genoss die prächtige Aussicht in vollen Zügen. Viel zu schnell waren die zwanzig Minuten vorüber und mit gedrosseltem Motor schwebte die kleine Maschine langsam über den Rasen des Platzes zur Landung. Dies war für mich der krönende Abschluss eines ereignisreichen Urlaubs.

Die St. Pauli Landungsbrücken, 1965
Die St. Pauli Landungsbrücken, 1965  Foto: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Sankt_Pauli-Landungsbr%C3%BCcken_-_1965.jpg Fotografie: Buonasera

Zwei Tage später traten wir die Heimreise an. Es ging mit dem Schiff zurück nach Hamburg zu den Landungsbrücken. Dann holten wir unsere Fahrräder aus den Kellern des Michels, fuhren zum Dammtorbahnhof und gaben unsere Räder im Gepäckwagen des D-Zuges ab. Unendlich müde aber sehr zufrieden kamen wir nach 16stündiger Reise in Kassel an und wurden am Bahnhof von unseren Eltern freudig in Empfang genommen.

Ich hatte nur noch den Wunsch nach einem richtigen Bett und viel Schlaf. Was ich meiner Mutter am anderen Morgen noch beantworten musste, war die Frage „Woher kommt der abscheuliche Geruch nach Fichtennadeln und was ist mit dem Schlafsack passiert?“ Meine Erklärung konnte sie auch nicht beruhigen. Luftmatratze und Schlafsack hatten von den Holzdielen im Klassenzimmer des Hunnius-Internats das Fichtennadel-Aroma und das überschüssige Öl der zur Bodenpflege eingesetzten Kehrspäne mit dem schönen Namen „Hahnerol“ angenommen. Der Duft ist auch nach einigen Wäschen in den Ausrüstungsgegenständen erhalten geblieben. Mich erinnert er heute noch an meine erste Radtour ohne meine Eltern und einen Rundflug über das Wattenmeer, den ich mir selbst „verdient“ hatte.

Text und Editor: B. Schaeffer, Mai 2022

 

Hotel Atlantis, Am Sandwall 29 in Wyk auf Föhr
Hotel Atlantis, Am Sandwall 29 in Wyk auf Föhr  Foto: B. Schaeffer, Kassel

Nachtrag
Im Sommer 2022 verbrachte ich meinen Urlaub auf der Insel Föhr. Natürlich suchte ich nach Spuren meines Aufenthaltes von damals vor 63 Jahren. Das Carl-Hunnius-Internat wurde abgerissen, doch das Hotel "Atlantis" steht noch in der ersten Reihe an der Strandpromenade. Das Gebäude wurde zeitgemäß renoviert und war kaum wieder zu erkennen.

Wo spielt dieser Beitrag?

Kurzbeschreibung

Im Juli 1959 starteten drei Sippen des CVJM Wartburg Bettenhausen und Mitglieder des Posaunenchores zur großen Fahrt mit dem Fahrrad in fünf Tagen nach Hamburg und dann weiter mit dem Schiff nach Wyk auf Föhr. Als Mitglied des Vereins und mit knapp 16 Jahren voller Tatendrang und Abenteuerlust meldete ich mich zur Teilnahme an. Es war meine erste Radtour ohne meine Eltern und ist mir bis heute unvergessen geblieben. Mehr als sechzig Jahre später (2022) habe ich den Versuch unternommen, mich an Einzelheiten dieser Reise zu erinnern, sie unter Zuhilfenahme des Internets zu rekonstruieren und mit Bildern zu ergänzen.

© Copyright 2018-2024 - Land Hessen