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Erinnerungen an meine Großmutter Auguste und ihre Zwillingsschwester Hermine.
- Autor: Bernd Schaeffer
- Zeit: 1895
- Ort: Fieselersiedlung im Stadtteil Forstfeld
- Vom: 24.06.2012
- Themen: Jugend- und Kindheitserinnerungen, Menschen erzählen
Die schwierigen Lebensumstände und eingeschränkten Bürgerrechte unserer Mütter und Großmütter sind rückblickend nur schwer nachzuvollziehen. Deshalb versuche ich nach mehr als einjähriger Recherche, die mir wichtig erscheinenden Stationen aus den Leben meiner Mutter Anneliese, meiner Großmutter Auguste und ihrer Zwillingsschwester Hermine zu beschreiben und soweit vorhanden mit Fotos aus dem Familienalbum zu illustrieren, um unseren Kindern und Enkelkindern einen Einblick in die Lebensbedingungen der Frauen im 20. Jahrhundert zu vermitteln.
Gerlinde Kühn, Staufenberg, 2012
Meine Großmutter Auguste W. und ihre Zwillingsschwester Hermine W. wurden am 28. August 1895 in Herbrechtsdorf im Lipperland geboren. Sie waren zwei von elf Kindern des Ehepaares Hermann und Karoline W.
Am Morgen nach der ausgiebig gefeierten Hochzeit der Schwester Emma W. mit Hermann B. entstand der ungewöhnliche Schnappschuss mit dem Kühe hütenden Brautvater Hermann W. In der Feldlage von Herbrechtsdorf zeigt das Foto von links, Hermine W., einen als „Lippscher Fürst“ verkleideten Bruder, Auguste und Anna W., das Brautpaar, Vater Hermann W. und eine unbekannte Person.
Ein Bruder meiner Großmutter, August W., lernte in einer Reichswehreinheit während des Ersten Weltkrieges Heinrich St. und Simon K. kennen. Als August W. seinen Kameraden Familienfotos zeigte, verliebte sich Simon K. spontan in die hübsche Hermine W.
Großtante Hermine, sie war die hübsche, couragierte und starke Frau an der Seite ihres Mannes, hatten wir Kinder gern.
Simon K. arbeitete wie der Rangierer Heinrich St. in Duisburg auch bei der Reichsbahn. Heinrich St. bewohnte mit seiner Frau Auguste und zwei Kindern, Heinz und Anneliese (die 91 jährige Mutter der Autorin), eine Wohnung im obersten Stockwerk eines mehrgeschossigen Bürgerhauses in der Gabelsbergerstrasse in Duisburg. In die Parterrewohnung zogen Familie Simon und Hermine K. mit ihrer Tochter Martha, die spätere Postangestellte und Buchhalterin ihres Vaters, ein. Oben im 2. Stockwerk ist Auguste St. mit Sohn Heinz zu sehen, unten Simon und Hermine K. mit Tochter Martha.
Simon K. erbat sich die Hochzeitsmitgift seines Schwagers Heinrich St., um in Kassel Bettenhausen, im Forstfeld, gemeinsam mit seinem Bruder Rudolf K. ein Doppelhaus zu bauen; eines der ersten Gebäude in der Ungewitterstraße (heute: Stegerwaldstraße). Die Weltwirtschaftskrise und der damit verbundene Wertverlust der Mitgift belasteten noch lange den Familienfrieden.
Eine Scheune stand in der Nähe des Hauses und zwei Kühe grasten auf der Wiese nebenan. Heu wurde in der Scheune gelagert. Auch Ackerland gehörte 1934 zum Haus (Familienchronik von 1934). Weit und breit waren keine Nachbarn.
"Kühe grasten auf dem freien Feld an der Lilienthalstraße, das später von Fa. Fieseler gekauft wurde", erzählte Rudi K., der jüngste Sohn von Hermine und Simon K.. Zum Tränken der Tiere versuchten Hans und Justus rittlings auf den Kühen zum Wahlebach zu gelangen, was nur selten gelang. Als die Besiedlung in Bettenhausen noch nicht so vorangeschritten war, hielt die Familie Hühner, Hasen und sogar Schweine. Die Schweine wurden für die Kantine der Flugzeugfabrik Junkers gefüttert. 7-8 Schweine wurden am Haus gehalten, davon verblieb ein Schwein zur Versorgung der Familie. Man erzählt sich, dass Hermine vor dem Haus im Kellereingang einen Hackeklotz stehen hatte, auf dem sie die Hühner auch selbst schlachtete.
Es gibt auch Schilderungen, dass Hermine K. während des Zweiten Weltkriegs zum Füttern die Küchenabfälle aus der Junkerskantine an der Lilienthalstraße abholte und damit die Schweine fütterte. Beim Tragen der Eimer halfen ihr oftmals russische Zwangsarbeiterinnen, die sich dadurch zusätzliche Lebensmittel erhofften. Beide Zwillingsschwestern engagierten sich unabhängig voneinander sozial und wohltätig.
Hermine kümmerte sich neben der Versorgung von Ehemann und acht Kindern auch um Junkershausgäste, die aus dem Stammwerk Dessau nach Kassel kamen und vorübergehend Quartier im Haus bezogen. Unter ihnen war auch Kurt H., der spätere Ehemann von Tochter Martha und Hans-Joachim Sch., der Vater der Autorin, die beide aus Magdeburg stammen.
Die Eheleute Simon und Hermine K. hätten gern gesehen, dass sich Hans-Joachim Sch. mit ihrer zweitältesten Tochter verbindet. Doch es kam anders, denn Hans-Joachim Sch. verliebte sich in die Tochter Anneliese der Witwe Auguste St. Das ganze Liebesdrama zwischen den beiden Cousinen ist den erst 2012 aufgefundenen Briefen zu entnehmen. Ein wichtiger Entscheidungsgrund war sicher, dass sich Hans-Joachim Sch. eher zu seinem Onkel Dr. jur. P. Sch. verpflichtet fühlte, der seit 1938 in Kassel als Finanzpräsident tätig war. Nach der Hochzeit 1942 in Magdeburg bezogen Hans-Joachim und seine Frau Anneliese eine Dachwohnung in der Stadtvilla Sophienstraße in Kassel, wo auch der Onkel mit seiner Familie lebte. Die weitere Familiengeschichte resultiert aus diesen Entscheidungen.
Etwas Außergewöhnliches ist der Eintrag im Kasseler Adressbuch von 1938.
Im 4. Teil "Genossenschafts-und Handelsregister, Handels- und Gewerbeverzeichnis" ist zu lesen:
HR Nr. A 3107 Hermine K.. Güternahverkehr Kassel-B., Inh. Frau Hermine K., geb. W., Kassel-B., Einzelprokura Simon K., Kassel-B.
HR Nr. 3038 Simon K., Lastwagenbetrieb Waldau, Inhaber: Fuhrunternehmer Simon K., Waldau
Simon K. traute seiner Ehefrau mit 8 Kindern viel zu. Aber man muss wissen, dass in jener Zeit Geschäfte nur vom Ehemann rechtlich verbindlich abgeschlossen werden konnten und eine Ehefrau in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts kaum frei schalten und walten konnte.
Rudolf O. war als österreichischer Wandergeselle, als Zimmermann, aus Engabrunn zur Familie K. vermittelt worden. Mit dem Lkw transportierte Rudolf O. im Auftrag der K.-Brüder Juteballen u. a. von Kassel nach Süddeutschland oder fuhr die Abfallschlacke der Spinnfaser-AG ab. Nebenbei brachte er dem jüngsten Sohn von Hermine und Simon K., Rudolf genannt Rudi, das Einparken in die Garage bei.
Hermine und Simon K. holten 1936 die Zwillingsschwester Auguste und ihren kranken Ehemann Heinrich St. mit Sohn Heinz am Hauptbahnhof Kassel ab.
Die erhoffte Besserung des Gesundheitszustandes durch Umzug nach Bettenhausen in "bessere Luft" als im Ruhrkohlenpott Duisburg trat nicht ein. 1938 verstarb Heinrich St. im Hause K. und wurde auf dem Waldauer Friedhof beigesetzt. Er verstarb zwar im Forstfeld in der Ungewitterstraße (heute: Stegerwaldstraße), doch der zuständige Friedhof war und ist Waldau.
Die verwitwete Auguste St. (meine Großmutter) blieb in der Familie und durfte auf Vorschlag von Simon K. die Miete durch Mithilfe im großen Haushalt abarbeiten. Völlig erschöpft quittierte sie die Arbeit, bekam eine Anstellung im Rüstungsbetrieb Fieseler im Lager und erhielt eine eigene Fieseler-Wohnung in Lohfelden, Röhrweg 1.
Nach der Bombardierung in 1943 brachte Hans-Joachim Sch. seine hochschwangere Frau Anneliese zu Verwandten ins bombensicher scheinende Lipperland. Alle an mich im Mai 2012 übergebenen Briefe haben dort die schlimme Zeit überlebt. Auguste St. sowie das Ehepaar Sch., zweimal in Kassel ausgebombt, inzwischen mit Wohnung in der Junkerssiedlung in Lohfelden, wurden im Mai 1945 aus ihren Wohnungen vertrieben (Evakuierung genannt), weil die amerikanische Besatzungsmacht ihre Wohnungen beschlagnahmte. Sie wurden in eine Flakbaracke auf dem freien Feld hinter Vollmarshausen oberhalb von Wellerode untergebracht, in der zuvor russische Zwangsarbeiter wohnten und die kurz vor dem Einzug der Familie "ausgeflogen“ sein sollen, so die Erinnerungen von meiner Mutter Anneliese Sch. geb. St.. Als Auguste St. auf dem Weg ins Ersatzquartier hörte, dass sie nicht in einem Bauernhaus, sondern in einer Flakbaracke unterkommen sollten, brach sie im Straßengraben neben dem Leiterwagen verzweifelt zusammen. Nach Kriegsende 1945 versorgte Hermine K. die Familie ihrer Zwillingsschwester Auguste mit Lebensmitteln.
August/Sept. 1945, Geburt von Bruder Günther Sch. und die Tauffeier in der Flakbaracke bei Wellerode
Die Flakbaracken konnten keine Dauerherbergen sein. Man fragt sich heute, warum sie nicht bei Familie Simon K. um Quartier baten, als die Evakuierung bevorstand. In Erinnerung geblieben ist, dass Simon K. zwar lange Zeit in Internierungshaft war, doch viele Personen zusätzlich im Haus beherbergt wurden und es an Wohnraum fehlte.
Ein anderer Platz am Knickchen, der "Dorfkrokela", wurde zugewiesen. Die Familien wurden vorübergehend im Saal neben dem Welleröder Dorffriedhof untergebracht. Am Knickchen entstanden zwei neue Fundamente. Die Baracken auf dem Feld wurden abgerissen und dort wieder aufgebaut. In dieser Zeit entstand der Plan der drei Familien, gemeinsam ein Haus zu bauen. Doch außer der Bauzeichnung, dem Aushub für den Keller, Verlegung der Wasserleitung usw. erfolgte nichts, denn Herr D., die Triebfeder des Bauvorhabens, verstarb am Knickchen.
Mehr als 60 Jahre sind vergangen und man wundert sich, warum das nun hässliche Relikt aus der Vergangenheit, die vom Dorf aus links befindliche Baracke, heute noch steht.
Simon K. war lange Zeit in Internierungshaft. Zwei der Söhne, Hans und Justus, inzwischen zurückgekehrt aus französischer und russischer Kriegsgefangenschaft, versuchten, gemeinsam mit ihrer Mutter, den Fuhrbetrieb fortzuführen.
Wie unterschiedlich die Leben der Familien der Zwillingsschwestern verliefen, zeigt sich an einem weiteren Beispiel.
In der 1. Etage hatten die beiden K.-Töchter Emmi und Luischen einen Kurzwarenladen eröffnet. Zudem schneiderten beide und so kam Publikum ins Haus. Die obige Postkarte wurde zum Kauf angeboten.
In dieser Zeit war der Geburtstagswunsch von Gerlinde ein „schönes Stückchen Brot".Auf Familienfeiern bei den Familien K. und August W. durften wir Kinder uns satt essen.
Zum letzten Mal besuchte die Autorin mit ihren drei Töchtern die inzwischen verwitwete Hermine K., um ihren Töchtern Erinnerungen an die Zwillingsschwester ihrer Urgoßmutter Auguste St., die schon am 1. 10. 1972 verstorben war, zu ermöglichen. Großtante Hermine erzählte, dass sie nicht mehr so gut schlafen könne und am frühen Morgen bereits in der Küche sei, um das Mittagessen vorzubereiten. Die Lebensmittel erhielt sie aus dem Lebensmittelgeschäft von Sohn Hans und Ehefrau Ilse nebenan in der Stegerwaldstraße. Schon der Zeitungsausträger bekam von ihr frühmorgens eine Kostprobe vom Reibekuchen oder "Arme Ritter". Sie ist uns als liebe Verwandte in Erinnerung geblieben, die Verständnis für unseren ständigen Hunger hatte. Beim letzten Besuch am Krankenbett war ihre Tochter Martha bei ihr und sie sang ein Kirchenlied. Unsere liebe Tante Hermine, geb. 28. 8. 1895, erreichte ihr Ziel, das war ihr 90. Geburtstag. Für Nachbarn in Bettenhausen/Forstfeld und für uns bleibt sie als "gute Frau" in Erinnerung. Sie verstarb wenige Tage später im September 1985 friedvoll im Kreise ihrer Familie.
Text und Fotos: Gerlinde Kühn, Staufenberg, 2012
Editor: Bernd Schaeffer, 06/2012
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Kurzbeschreibung
Die schwierigen Familienverhältnisse und eingeschränkten Bürgerrechten unsere Mütter und Großmütter sind rückblickend nur schwer nachzuvollziehen. Deshalb versuche ich nach mehr als einjähriger Recherche, die mir wichtig erscheinenden Stationen aus den Leben meiner Mutter Anneliese, meiner Großmutter Auguste und ihrer Zwillingsschwester Hermine zu beschreiben und soweit vorhanden mit Fotos aus dem Familienalbum zu illustrieren, um unseren Kindern und Enkelkindern einen Einblick in die Lebensbedingungen der Frauen im 20. Jahrhundert zu vermitteln
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