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"Gäbe es das Lettenlager noch, wäre ich als erste wieder drinne"

Evi Wetzstein
Foto: Falk Urlen

Evi Wetzstein, geb. Kupfer, schildert für das Freie Radio Kassel, wie sie im Obdachlosenlager am Forstbachweg, Lettenlager genannt, in einer Familie mit 12 Kindern aufwuchs. Sie erzählt von ihren Spielgewohnheiten, ihrer schönen Zeit in der DDR als Übersiedlerin und ihrer Rückkehr. An der "Häuserbesetzung" der "Belgiersiedlung" beteiligte sie sich aktiv und schwärmt noch heute von dem guten Zusammenhalt innerhalb des Lagers. Nach längerer Abwesenheit wohnt sie heute wieder an fast der gleichen Stelle, in der Heinrich-Steul-Str.

Ich bin schon als Schulkind in das Obdachlosenlager am Forstbachweg, wir nannten das „Lettenlager“, eingezogen. Als Kinder waren wir hier einfach glücklich, wir hatten einen Spielplatz, eine Schaukel, haben alles das getan, was Kinder sonst auch tun, Murmeln und Gummitwist, Cowboy und Indianer gespielt, sind auf der Eisenhammerstr. Schlitten und Rollschuhe gefahren, aber heben nicht mit toten Ratten gespielt, wie es damals im „Spiegel“ stand. Das elektronische Spielzeug von heute gab es ja noch nicht. Wir bekamen dann im Lager einen Jugendclub, am Wochenende gab es Musik und Tanz, das war für uns einfach optimal. Ein Herr Schüssler kümmerte sich um alles und hielt auch alles in Schuss, wir nannten ihn unseren kleinen Sheriff, aber er war ein ganz lieber Mensch.

Dann siedelten wir in die DDR über, ich fühlte mich als Kind hier sehr wohl, wir hatten da gleich ein ganzes Haus mit Garten bekommen, wir wohnten in einem kleinen Dorf, ich war bei den Pionieren, das war wirklich alles sehr schön. Wir waren damals 10 Kinder, zwei weitere Geschwister kamen dann später noch dazu, wäre ich älter gewesen, wäre ich sofort da geblieben. Meine Mutter aber wollte wieder in den Westen zurück, das war gar nicht so einfach. Sie kämpfte, schrieb Briefe an Ulbricht, weil sie einfach wieder zurück wollte. Eines Morgens um sechs Uhr wurden wir auf einen Lkw verladen und nach Helmstedt in ein Durchgangslager gebracht. Wir kamen nicht nur einfach wieder in eine Wohnung zurück, sondern mussten über die Lager in Gießen und Homberg die ganze Prozedur durchlaufen, so als ob wir aus der DDR geflüchtet wären, aber das war ja gar nicht so. Dann kamen wir wieder zurück in ein Haus auf den Mattenberg, in dem nur Flüchtlinge untergebracht waren.

Später wurden dann die Häuser am Steinbruch gebaut, hier bekamen wir dann eine richtig schöne Vierzimmer-Wohnung, wir hatten zum ersten Mal eine Badewanne und fühlten uns wie im Schloss. Leider mussten wir wieder raus, mein Vater wurde arbeitslos, bei den vielen Kindern hat es hinten und vorne nicht gereicht. Also mussten wir wieder zurück ins Lettenlager in 16 p, vorher wohnten wir in 16 e. Unsere Wohnung hatte 2 Zimmer und die Küche, meine Mutter hatte dann aber den Flur zur Küche gemacht, damit auch in der eigentlichen Küche noch Betten aufgestellt werden konnten. Wir schliefen in Etagenbetten, in jedem Bett 2 Kinder. Das war nicht komfortabel, aber schön. Ich denke da ganz und gar nicht ungern zurück und ich schäme mich auch nicht, dort gewohnt zu haben.

Dann kam eines Tages ein Nachbar und sagte, kommt mit, wir wollen die Belgiersiedlung besetzen, da stehen Wohnungen leer. Das halbe Lettenlager war auf dem Weg in die Belgische Straße, mit Autos, Decken und Matratzen, damit wir die Wohnungen gleich übernehmen konnten. Irgendeiner hatte die Tür aufgebrochen und ich musste, weil ich schon größer war, hier bleiben und auf der Matratze schlafen. Wir hatten zum Glück einen Schäferhund, der mich hier dann bewachte, ich hatte aber große Angst. Am nächsten Tag kamen dann die ganzen Möbel, das haben die privat organisiert. An Probleme mit Strom und Wasser kann ich mich nicht mehr erinnern. Das war ein schönes Wohnen, bis die Polizei kam und wir wieder alles räumen mussten. Zuvor schon konnten wir nicht alleine einkaufen gehen, wir wurden immer von 2 Polizisten begleitet, dafür gaben wir ihren Hunden aber auch Wasser, es war damals ja so warm. Bei der Räumung ging das bei uns alles friedlich zu. Mein Vater hat sich damals nachts auch an den Wachrundgängen beteiligt, um auch aufzupassen, dass hier nicht irgendetwas passiert.

Dann kamen wir wieder ins Lettenlager zurück, bekamen dann aber von der Stadt zwei Wohnungen zugewiesen, etwas später bekamen wir zwei Wohnungen in der Lüderitzstr. Wir gingen in die Togoschule, hier bekamen wir einmal auch Pakete. Aber die „hungrigen Kinder von Kassel“, wie es in einer Illustrierten stand, waren wir nicht. Ich hatte nie Hunger gehabt, und wenn die Eltern nichts zu essen hatten, bekamen wir es von anderen Familien. Es war hier ein ganz toller Zusammenhalt, da hat jeder jedem geholfen. Es kam natürlich auch ab und zu etwas vor, ein Taxifahrer wurde überfallen und es gab auch viel Zoff. Wir brauchten nicht ins Kino zu gehen, wir hatten das alles vor der Haustür.

Ich bin 1973 dann aus Kassel weg, 30 Jahre lang. Und wenn es das Lettenlager noch gäbe, wäre ich die erste, die wieder da „drinne“ wäre. Später habe ich dann eine Wohnung in der Heinrich-Steul-Str. bekommen, denn hier gibt es noch viele Menschen, die man von früher kennt, ich fühle mich hier wohl. Leider gibt es Probleme mit der Sauberkeit, das war früher im Lettenlager besser.
Aber hätten wir die Häuser der "Belgiersiedlung" nicht besetzt, wären die Wohnungen hier vielleicht nie gebaut worden und ich würde nicht hier wohnen, so schließt sich der Kreis. 

Redaktion: Falk Urlen, Oktober 2023

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Kurzbeschreibung

Evi Wetzstein, geb. Kupfer, schildert für das Freie Radio Kassel, wie sie im Obdachlosenlager am Forstbachweg, Lettenlager genannt, in einer Familie mit 12 Kindern aufwuchs. Sie erzählt von ihren Spielgewohnheiten, ihrer schönen Zeit in der DDR als Übersiedlerin und ihrer Rückkehr. An der "Häuserbesetzung" der "Belgiersiedlung" beteiligte sie sich aktiv und schwärmt noch heute von dem guten Zusammenhalt innerhalb des Lagers. Nach längerer Abwesenheit wohnt sie heute wieder an fast der gleichen Stelle, in der Heinrich-Steul-Str.

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