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„Henner Piffendeckel“ ein Kind der Unterneustadt
- Autor: Gerhard Böttcher
- Zeit: 1850-1899
- Ort: Am Holzmarkt
- Vom: 14.02.2014
- Themen: Stadtteilkultur, Bedeutende Persönlichkeiten
Der bekannte SPD-Politiker Philipp Scheidemann, am 26. Juli 1865 in Kassel geboren, in der Brüderkirche getauft und am 29. November 1939 in Kopenhagen gestorben, war ein Kind der Unterneustadt. Über seine politische Karriere ist viel geschrieben, über seine Jugendjahre, die vielleicht sein späteres Leben wesentlich mit geprägt haben, ist wenig zu lesen.
Geboren wurde er als Sohn eines Polstermeisters in der Kasseler Altstadt, im Eckhaus des Gässchen „Hinter dem weißen Hof" und der Michelsgasse, damals Haus Felixstraße 613. Wenige Jahre nach seiner Geburt zogen seine Eltern in die Unterneustadt, Leipziger Straße 6 (Ecke Holzmarkt). Hier wurden auch seine drei Schwestern geboren.
Nach vierjährigen Besuch (1871-1875) der Volksschule, wechselte Philipp Scheidemann zur Realschule in der Hedwigstraße. Nach kurzer Schulzeit dort übersiedelte er mit seinen Eltern nach Horsovice bei Prag, denn sein Vater war inzwischen der Schlossverwalter des Prinzen Moritz von Hessen geworden. Der Aufenthalt in Böhmen dauerte aber nur wenige Jahre, wegen der schlechten Schulverhältnisse kehrte die Familie wieder nach Kassel zurück. Nach dem Tod des Vaters begann er nach dem Vorbild seines Onkels eine Lehre als Setzerlehrling in der Buchdruckerei und Redaktion des Kasseler Tageblattes der Gebrüder Gotthelft in der Kölnischen Straße 10. Bei seiner pflichtgemäßen Wanderschaft als Buchdrucker lernte er in Marne/Holstein seine spätere Frau, Johanna Dibbern kennen.
Philipp Scheidemann war ein bildungshungriger Autodidakt, 1895 gab er seinen erlernten Beruf auf und bewarb sich als Redakteur in der Mitteldeutschen Sonntagszeitung in Gießen und wurde später Chefredakteur bei sozialdemokratischen Zeitungen in Nürnberg und Offenbach. 1905 wurde er schließlich Chefredakteur des Kasseler Volksblattes.
Unter dem Pseudonym „ Henner Piffendeckel " machte Ph. Scheidemann mit seinen Lausejungen Geschichten das Dörfchen um den Holzmarkt aus den Jahren seiner Kindheit 1875-1880 wieder lebendig. Es war die Zeit Ende des 19. Jahrhunderts, der entstehenden Heimatliteratur, mit der Pflege der heimischen Muttersprache. Scheidemann war der Verfasser von Mundartgeschichten in ungebundener Alltäglichkeit, die fast unmerklich poetisch wurden.
Die mundartlichen „ Geschichderchen" schrieb Scheidemann als leitender Redakteur in der von ihm geleiteten Kasseler Zeitung. Seine Geschichte „ Dr Quetschen-Frieder ", beginnt mit dem typischen Kasseler Dialekt: „Mä saßen vor der Unnerneistädter Kirchendähre un bafften Zigaretten". Die bekannteste Erzählung dürfte die „ De Drillerpiffe ", sein. Sie spielt sich am Holzmarkt ab, also direkt vor seiner Haustür.
De Drillerpiffe (Auszug)
von Henner Piffendeckel
Ich kann von jedem Casseläner verlangen, daß hä weiß, was 'ne Drillerpiffe äs. Den Heimatscheinem, die sich hier rimmerherdriewen un nadierlich nit wissen, was 'ne Drillerpiffe äs, wäll ich's klar machen. 'Ne Drillerpiffe äs 'ne kleine Piffe von Holz mit 'ner Erwese drinne. Wann me nin blosen dhiet, dann pifft se. De Erwese wird vom Blosen meschugge un finget ahn ze danzen; doderdurch giwwet's Schbektakel in der Piffe. Imme ganz deitlich ze sin, domitte daß's au der greeßte Blosenkobb verschtehn dhiet: der Piff, den me us der Piffe locket, äs gewirzt dorch'n schnarrendes R. Was'n einigermaßen heller Kerle äs, der kann den Don au 'rus bringen, ohne daß hä 'ne Drillerpiffe hot. Hä brucht nur in der Kehle 'n R ze schnarren, als wanne schbrechen wollte: Rrrrus us den Karduffeln! Wann dann d's R schnarrt, dann machte de Schnudde schbitz, schnarrt d's R widder un pifft derzu. Grade so pifft 'ne Drillerpiffe.
So, nu weiß wohl jeder, der de Hose nit mit der Bißzange anzieht, was ne Drillerpiffe äs. Ich wäll noch eins vorne wecken sahn: wann einer of 'ner Drillerpiffe pifft, dann kännen in zehn Minuten zwanzig Menschen doll weren. Wann awer zehne of Drillerpiffen piffen, dann kännen se hunnert Menschen in 'ner Viertelschtunne wahnsinnig machen.
Frei zitiert nach: Kasseläner Klassik von Autor Hans Römhild
Seine politische Biographie ist weithin bekannt und liest sich so:
- 1883 tritt er in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) und in die Gewerkschaft ein.
1903 Wahl in den Reichstag,
1906-1911 Stadtverordneter in Kassel,
1917 Parteivorsitzender der SPD,
1918 Vizepräsident des Reichstages, am 9. November ruft er vom Reichstag die "deutsche Republik" aus
1919 von Februar bis Juni Reichsministerpräsident
1919 zum Oberbürgermeister in Kassel gewählt, der er bis 1925 bleibt
1926 enthüllt Scheidemann im Reichstag die Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee, was zum Rücktritt des Kabinetts Marx führt.
1933 emigriert Scheidemann über Prag, die Schweiz, Frankreich und die USA nach Dänemark
1939 stirbt Philipp Scheidemann in Kopenhagen. Vierzehn Jahre lang bleibt die Urne im Krematorium in Kopenhagen aufbewahrt. Sie wird 1954 vom Oberbürgermeister Willi Seidel nach Kassel geholt. Sein Ehrengrab steht auf dem Hauptfriedhof, wenige Schritte vom Grab des letzten hessischen Kurfürsten entfernt. Nach Scheidemann ist in Kassel ein Platz im Zentrum und ein Jugendhaus in der Nordstadt benannt.
Text: Gerhard Böttcher, März 2013
Editor: Erhard Schaeffer, Februar 2014
Quellen:
- Adressbücher Cassel
- Kasseläner Klassik von Hans Römhild
- Deutsches Historisches Museum, Berlin
- regiowiki.hna.de/Henner_Piffendecke
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Kurzbeschreibung
Der bekannte SPD-Politiker Philipp Scheidemann, am 26. Juli 1865 in Kassel geboren, in der Brüderkirche getauft und am 29. November 1939 in Kopenhagen gestorben, war ein Kind der Unterneustadt. Über seine politische Karriere ist viel geschrieben, über seine Jugendjahre, die vielleicht sein späteres Leben wesentlich mit geprägt haben, ist wenig zu lesen.
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