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Kein schöner Land in dieser Zeit
- Autor: Erhard Schaeffer
- Zeit: 1955
- Ort: Eichwaldstraße
- Vom: 06.02.2020
- Themen: Jugend- und Kindheitserinnerungen, Menschen erzählen
In der Zeit der 1950er Jahre war Deutschland von Entbehrung und Aufbruch nach den schrecklichen Jahren des Weltkriegs geprägt. Als Nachkriegskind, hatte ich den furchtbaren Krieg nicht persönlich erlebt, wuchs aber in der Zeit danach unter Verzicht auf Wohlstand und Überfluss auf. Da ich eher von kleiner und hagerer Statur war, hieß es immer: „Du bist so dünn, du musst mehr essen damit aus dir was wird.“ Zur Behandlung meiner Rachitis wegen Vitamin-D-Mangel bekam ich Tabletten verordnet. In den ersten Jahren meiner Kleinkinderzeit war ich häufiger an Bronchitis erkrankt. Dies waren alles Zeichen für die besorgten Eltern mich zur Kinderkur zu schicken, wenn möglich noch vor der Einschulung, damit ich die wichtige Zeit des Lernens nicht versäumte.
Es kam wie es kommen sollte. 1955 im Alter von sechs Jahren wurde ich in das Kinderkurheim Werraland in Bad Sooden-Allendorf verschickt. Eigentlich freute ich mich schon auf die Einschulung und die Zuckertüte. Eingeschult wurde man damals noch zum 1. April. Statt dessen wurde ich aber im März für schreckliche sechs Wochen zur Kur geschickt. Was mir die Sache erträglicher machen und versüßen sollte, waren die Aussagen meiner Eltern: „Da gibt es viele andere Kinder mit denen du spielen kannst. Ein älterer Junge aus der Nachbarschaft fährt auch in der Zeit dahin. Es gibt bestimmt leckere Speisen zum Essen und es ist gar nicht weit von zu Hause. Wir kommen dich mal besuchen.“
Der Aufenthalt wurde vom Sozial- und Jugendamt Abteilung Erholungsfürsorge der Stadt Kassel organisiert. Meine Eltern mussten einen Zuschuss von 40 DM bei der Stadtsteuerkasse einzahlen. Das war viel Geld für meinen Vater. Eine durchschnittliche Arbeitnehmerfamilie mit zwei Kindern verfügte in der Zeit über ein Monatseinkommen von rund 450 DM brutto.
Für mich wurde es ein negatives Erlebnis, an das ich mich nur schmerzlich entsinne. Die vielen schönen Worte vor der Abreise hielten nicht was sie versprachen. Den älteren Bäckersohn aus der Osterholzstraße sah ich nur während der Anreise mit dem Zug. Er war schon über 10 Jahre alt, wurde in eine andere Altersgruppe eingeteilt und hatte auch kein Interesse sich mit so einem Pimpf abzugeben.
Sicherlich gab es auch viele Mädels und Jungs in meiner Altersgruppe, aber an Freizeiten mit gemeinsamen Spiel war nicht zu denken. Der Tagesablauf war von den strengen Erzieherinnen, die ihr Handwerk noch in den NS-Zeiten unter Hitler erlernt hatten, strickt vorgegeben und organisiert. Ordnung und Sauberkeit war ihr Maß aller Dinge.
Schon bei Ankunft mussten wir unsere Kleidung in einen Spind auf dem Dachboden einräumen und eigenverantwortlich für den Wechsel, die Sauberkeit und die ordentlich Trennung der Sachen sorgen. Bislang hatte meine Mutter dafür gesorgt. Geschlafen wurde in Mehrbettzimmern mit bis zu acht Kinder in einem Raum. Auf die Einhaltung der Schlafzeiten mittags und abends wurde peinlichst geachtet. Mittags waren zwei Stunden für Schlafen vorgeschrieben. Am Abend sangen wir noch ein Einschlaflied, danach musste für 10 Stunden Ruhe im Schlafsaal einkehren. Verstöße wurden mit Strafen geahndet. Als ich einmal noch gequatscht hatte musste ich lange mit einer Decke auf dem Flur stehen.
An ein Lied kann ich mich noch erinnern: „Kein schöner Land in dieser Zeit ….“. Diese Volksweise aus dem 18. Jahrhundert ist als Wander- und Volkslied manchen noch bekannt. Für mich bekam der Text im Nachhinein eine bitteren Geschmack. Wie heißt es da trefflich: „….wo wir uns finden wohl unter Linden zur Abendzeit..,“ Von Wanderromantik war aber für mich nichts zu spüren. Unsere Wanderungen unter Aufsicht in der Gruppe beschränkten sich auf den kleinen Ort und vor allem täglich zur Saline, wo die Bronchialerkrankungen kuriert werden sollten. Der Text geht weiter: „Da haben wir so manche Stund' gesessen wohl in froher Rund.“ Unsere Runden beschränkten sich auf den umzäumten Hof des Heimes mit Kreisspielen unter Aufsicht. Froh konnte ich jedoch nur sein, wenn ich Alles beachtet hatte. Die Aussage des Textes: “Dass wir uns hier in diesem Tal noch treffen so viel hundertmal...“ Dies klang für mich wie eine Drohung, dafür war der Aufenthalt mit zu vielen schlechten Erinnerungen verbunden.
Das Essen im Speisesaal war abwechslungsreich aber nicht immer nach meinem Geschmack. So gab es regelmäßig Milchreis mit fast keinem Zucker oder Zimt. Für mich eine Qual, er blieb bei mir im Mund stecken und in schlechter Erinnerung. Aber es musste aufgegessen werden sonst musste man bis zum Schluss am Tisch sitzen bleiben. Ob ich dabei zunahm kann ich nicht sagen. Wie meinte meine Mutter noch vor der Abreise: „Es gibt bestimmt leckere Speisen.“
Mit dem Besuch der Eltern rechnete ich fest. Sie kamen auch an einem Sonntag nach Bad Sooden, durften aber nur über den Zaun schauen ohne mit mir zu reden. Nach Ansicht der Heimleitung wäre ein Kontakt schädlich für den Kurerfolg, denn die Kinder bekämen danach nur Heimweh. Großes Heimweh hatte ich sicherlich und ich sehnte mich nach dem Tag der Abreise. An einem Freitag im Mai rollte der Zug im Bahnhof Kassel ein. Ich rannte weinend zu meiner Mutter und rief nur: “Warum habt ihr mir dies angetan?“
Ähnlich wie mir ging es vielen Kindern, in den Kurheimen der damaligen Zeit. Die selben Erfahrungen hat auch Wilfried Strube aus Kassel gemacht. Er war vor mir in den dem selben Kinderheim Werraland. Ich war damals darauf nicht vorbereitet und einfach noch zu jung. An einen späteren Kuraufenthalt auf Borkum mit 12 Jahren denke ich gerne zurück. Die Einrichtung in Bad Sooden Allendorf gibt es auch 2020 noch. Heute ist dort das Mutter-Kind-Zentrum, Klinik Werraland - Bad Sooden-Allendorf Hessen untergebracht.
Einen Trost hatte ich dann doch, obwohl die Schule für die Mitschüler schon angefangen hatte, bekam ich wie alle eine große Schultüte mit leckeren Sachen.
Wenn sie zum Thema Verschickungskinder mehr lesen möchten, dann können sie den n-tv Beitrag vom 25.11.2023 von Frau Solveig Bach im Anhang herunterladen.
Autor: Erhard Schaeffer, 2019
Fotos:
- Privatsammlung, Erhard Schaeffer, Kassel
- Horst Ehrhardt, Eutin
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Kurzbeschreibung
In der Zeit der 1950er Jahre war Deutschland von Entbehrung und Aufbruch nach den schrecklichen Jahren des Weltkriegs geprägt. Als Nachkriegskind, hatte ich den furchtbaren Krieg nicht persönlich erlebt, wuchs aber in der Zeit danach unter Verzicht auf Wohlstand und Überfluss auf. Da ich eher von kleiner und hagerer Statur war, hieß es immer: „Du bist so dünn, du musst mehr essen damit aus dir was wird.“ Zur Behandlung meiner Rachitis wegen Vitamin-D-Mangel bekam ich Tabletten verordnet. In den ersten Jahren meiner Kleinkinderzeit war ich häufiger an Bronchitis erkrankt. Dies waren alles Zeichen für die besorgten Eltern mich zur Kinderkur zu schicken, wenn möglich noch vor der Einschulung, damit ich die wichtige Zeit des Lernens nicht versäumte.
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