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Mit Frischobst in den Dschungel
- Autor: Bernd Schaeffer
- Zeit: 1955
- Ort: Gecksbergstrasse
- Vom: 03.10.2021
- Themen: Erlebte Geschichte, Menschen erzählen
Meine Kindheitserfahrungen und Erinnerungen an die Zeit von 1955 bis 1959 - im Garten meiner Großeltern, der Siedlung Eichwald und den Baracken im Dschungel in der Losseaue mit ihren Bewohnern – sind Grundlage dieses Beitrags.
Nach meiner Einschulung in die Bürgerschule 26 in Kassel Bettenhausen zogen wir 1955 vom Haus am Dorfplatz, in die Gecksbergstraße 29, am Eichwald, in das Haus meiner Großmutter.
Dort war alles ganz anders. Im angrenzenden großen Garten waren ein alter Obstbaumbestand mit verschiedenen Apfelsorten, Pflaumen in allen Farben, Kirschen, Zwetschgen und unzählige Büsche von Beeren.
Die Krönung aber war der riesige Birnbaum auf der Bleiche. Ein Erwachsener konnte ihn nicht umfassen und er war höher als das Haus mit seinen zwei Etagen. Er war sehr ertragreich und brachte manches Jahr über zwei Zentner Birnen. Meine Oma nannte ihn „Gute Luise“, das war auch der Name der Birnensorte
Hinter dem Baum, an der Grenze zum Nachbarn, stand ein kleines Häuschen mit Giebel. Dieses war bis nach dem Krieg als Schweinestall gebaut und auch genutzt worden. Jetzt war es das Domizil einer Horde von mindestens 15 bis 20 Rhodeländer-Hühnern und einem frechen Hahn, einem Italiener. Eine große hohe Drahtumzäunung mit gepflastertem Boden aus roten Trümmerbacksteinen war ihre Auslauffläche und der gemauerte Komposthaufen ihr Lieblingsort.
Im Herbst, wenn das Obst reif war, wurden die Einmachgläser gespült. Der Einkochapparat, mit den Einmachgläsern auf dem mit Holz und Brikett geheizten Ofen, war im Dauereinsatz. Der Himbeersaft wurde in Flaschen gefüllt und die Beeren eingeweckt oder in Schnaps eingelegt. War eine Obstsorte genug für uns verwertet kam der Satz: „ und morgen gehen wir in die Baracken“!
Gesammelte Zeitungen wurden dann zu Tüten gerollt. Ich mit meinen kleinen „Piepelfingern“, wie Oma sagte, musste fleißig mitdrehen. Sie holte die Waage aus dem Keller und füllte immer ein Kilo Kirschen, Äpfel oder anderes Obst in die vorbereiteten Tüten.
Meine Mutter, Oma und ich gingen dann mit vier großen, mit Obsttüten gefüllten Einkaufstaschen und öfters noch mit einem Rucksack über den Kamm des nahen Eichwaldes, direkt zu den Baracken.
Es gab zwischen den Bäumen hinunter einen steilen Schleichweg, der bei Regen sehr glatt war. Manchmal fiel beim Ausrutschen das Obst aus der Tasche und an manchen Stellen waren im Weg große Stufen oder Absätze. Dort musste man die schweren Taschen einzeln hinunter reichen. Wir gingen stets vor dem Mittagessen, weil dann die meisten Männer noch schliefen oder noch nicht betrunken waren.
Meine Aufgabe war es, den spielenden Kindern, die ich mittlerweile zum größten Teil vom Sehen oder aus der Schule kannte, zu sagen, was für Obst wir mitgebracht hatten. Sie sollten ihren Müttern mitteilen, dass wir da waren. Das machten sie gern und kamen bisweilen schon angelaufen.
Die Tüte mit Obst kostete 75 Pfennig und das Fallobst einen 50er.
Da sie wussten, dass schwangere Frauen nur persönlich eine Tüte Fallobst kostenlos bekamen, holten sie ihre Mütter. Manche hatten als Umstandskleid ein Nachthemd an. Meine Großmutter war couragiert und ging auch zu bestimmten Baracken an den Eingang und rief hinein, dass wir da waren, dann wurden allerdings die Männer aufmerksam, das war nicht immer gut.
Im Grunde kam ich mit als Kontaktperson zu den Kindern und zur Beruhigung der Gemüter. Es signalisierte auch, dass wir keine Angst hatten, was nicht immer stimmte.
Meine Mutter hatte mir verschiedene Verhaltensregeln erklärt und passte immer auf mich auf „wie ein Schießhund“ wie sie sagte. Wir hatten auch verschiedene Codewörter ausgemacht, was ich dann machen sollte. Von meinem 8. bis 11. Lebensjahr ging ich auch ab und zu mit meiner Mutter allein in den Dschungel und half ihr beim Tragen.
Ich hatte immer meine alten Kleider und Schuhe an, die ich sonst nur zum Spielen trug. Meine Schleife auf dem Kützchen im Haar und die Spangen wurden vorher abgenommen. Oma und meine Mutter hatten ihre alten Schuhe, Strickjacken und Kittelschürzen an.
Die hatten sie das sonst nie an, wenn sie aus dem Haus gingen.
Meine abgetragene Kleidung verschenkte meine Mutter. Vielleicht passierte uns deshalb auch nichts und wurden in ihrer Armseligkeit erduldet. Dennoch waren wir immer wachsam.
Ich hätte ihnen so gern mein schickes Sonntagskleid aus dunkelrotem, gesmoktem Cordsamt mit Perlmuttknöpfen gezeigt.
Manche Frauen und Kinder hatten blaue Flecken und Schorf im Gesicht und am Körper; ihre Kleidung war meist dreckig oder zerrissen.
Die Wege zwischen den Baracken waren mit Koksschlacke vom Gaswerk aufgefüllt und dem entsprechend war der Dreck auch an unseren Schuhen tief schwarz.
Wenn manche Männer sahen, dass ihre Frauen uns Geld für das Obst gaben, brüllten sie, wieso sie noch Geld haben und wo sie den Rest versteckt hätten.Einmal war ich in einer Baracke, weil meine Mutter zu einer bestimmten Frau wollte, die im Bett lag. Meine Mutter wollte mich nicht draußen allein lassen, und so ging ich mit. Drinnen roch es fürchterlich. Die kleinen Kinder liefen ohne Windeln herum und es wurde irgendetwas Undefinierbares gekocht.
Längs der Baracke an einer Wand mit vielen Fenstern war ein schmaler langer Gang. Es gingen mehrere gleich große Einzelzimmer ab. Fast in jedem wohnte eine andere Großfamilie. Manchmal gab es einen Mauerdurchbruch ohne Tür zum Nebenzimmer. Ein Tisch, Stühle und ein Regal oder Schrank und Betten waren in der Regel die Einrichtung. Die Matratzen lehnten meist an der Wand. Es stank nach Spiritus vom Kocher und nach Fusel.
An diesen Tagen lernte ich eine komplett andere Welt kennen und war froh, dass ich ein eigenes, großes Bett hatte, mit einer Bettdecke aus selbst gerupften Hühnerfedern, im Schlafzimmer meiner Eltern.
Ich weiß nicht wie viele Kinder manche der Familien hatten, ein Kilo Birnen für jedes Kind hat selten gereicht. Sie waren fast immer draußen, spielten und waren erkältet. Einmal hat meine Oma eine Tüte Hustentee mitgenommen.
Meinen 8 Jahre älteren Bruder konnten wir nie als Träger mitnehmen. Er wäre von den Männern - heute würde man sagen angemacht- und vielleicht auch verprügelt worden
Wenn die Erntezeit der guten Luise kam, gab es massenhaft Fallbirnen. Manchmal musste ich noch zu unseren Nachbarn, um nach alten Zeitungen für Tüten zu fragen. Als Gegenleistung brachte ich ihnen dafür Birnen mit.
Keiner konnte oben in dem weit ausladenden Birnbaum klettern, um zu pflücken. In dieser Zeit gingen wir zweimal in der Woche mit Fallbirnen zu den Baracken.
Wir schüttelten einige Äste mit einem langen Eisenhaken und schon hatten wir wieder eine Fuhre frischer Birnen zusammen. Was wir nicht verkauften konnten, ließen wir da, oder verteilten es an die armen Kinder.
Die Hühner wurden beinahe erschlagen vom Fallobst und hatten Durchfall von dem vielen Birnen, die in ihrem Gehege auf das Pflaster fielen und zu Brei wurden. Sie waren einseitige Ernährung gewohnt. Im Mai gab es Maikäfer, dann Löwenzahn, im Spätherbst Eicheln und Bucheckern, die ich im Eichwald sammeln musste. Mein Vater hatte mir nachdrücklich verboten allein im Eichwald auf der Seite zu den Baracken zu sammeln, obwohl ich mich ja dort gut auskannte. Warum kann ich heute verstehen.
Von dem eingenommenen Geld kaufte meine Mutter die teuren Zimtstangen und Zucker zum Einkochen und neue Einmachgläser. Es gab auch sogenannte Flaschen mit kleinem Deckel für Johannis- und Stachelbeeren.
Wir hatten als Vorrat für den Winter über 80 Weckgläser und 30 - 40 Weckflaschen Obst im Keller. Bei der Aufbereitung für die Gläser musste ich immer mithelfen. Die Pflaumen und Kirschen entkernen, bei den Stachelbeeren die Blüten und den Stiel abschneiden und die Johannisbeeren abstreifen. Äpfel und Birnen brauchte ich für die Einmachgläser nicht zu schälen, da meine Schalen immer zu dick waren und ich zu viel Abfall produzierte, - was für eine wundersame Fügung und Zufall!
Rosinen Mandeln und Nüsse wurden auch von diesen Einnahmen gekauft, damit waren die Weihnachtsplätzchen und der Stollen gesichert.
Zusätzlich wurde auch das Gemüse vom Grabeland in Konservenbüchsen eingekocht. Diese wurden vorher bei meinen väterlichen Großeltern (Klempnerei Siewert) am Dorfplatz mit der Büchsenmaschine abgeschnitten und dann mit der Dosenverschlussmaschine durch Bördeln wieder verschlossen, aber dies ist eine andere Geschichte.
Irene Rädlein geb. Siewert, im Juli 2021
Editor: Bernd Schaeffer, im September 2021
Quellennachweis:
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Guteluise1.poupou.jpg
https://ais.badische-zeitung.de/piece/0a/58/0e/41/173542977-h-720.jpg Foto Julia Vogt
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Kurzbeschreibung
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