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Niederländischer Zwangsarbeiter bei den Gerhard-Fieseler-Werken
- Autor: Falk Urlen
- Zeit: 1943
- Ort: Gerhard-Fieseler-Flugzeugwerke
- Vom: 03.03.2021
- Themen: Zweiter Weltkrieg, Menschen erzählen
Ein niederländischer Zwangsarbeiter beschreibt in seinem Tagebuch, wie er nach Kassel kam und welche Arbeiten er bei den Fieseler-Werken ausführen musste. Er beschreibt die Lebensumstände im Lager und in Kassel, besonders die Zeit der Luftangriffe auf das Werk und die Stadt. Schließlich beschreibt er die Situation am Kriegsende.
Der Autor verknüpft diese Schilderung mit persönlichen Erinnerungen, die er als Vorsitzender der ehemaligen Fieseler-Siedlung gemacht hat.
Einführung
Im Januar 2021 fragte mich der Enkel eines ehemaligen Zwangsarbeiters, der bei den Junkers-Werken in der Lilienthalstr. in Kassel arbeiten musste, ob ich noch geschichtliches Material zu diesem Einsatz hätte. Er hatte meinen Beitrag über das "Lettenlager" bei "Erinnerungen im Netz" gefunden. Er lebt heute in Texas/USA und arbeitet das Lebens seines Großvaters als Zwangsarbeiter auf. Er verwies mich dabei auf das Tagebuch eines Fieseler-Zwangsarbeiters, das im Netz veröffentlicht ist und das ich daraufhin übersetzte. Hier ist auch der oben abgebildete Werksausweis abgebildet. Es geht um Gert Reijnierse, sein Sohn Rob gab mir noch zusätzliche wichtige Informationen.
In den 70/80er Jahren war ich Vorsitzender der „Siedlergemeinschaft Forstfeld“, d. h. der ehemaligen „Fieseler Siedlung“. Hier waren für die Mitarbeiter ca. 400 Werkswohnungen geschaffen worden. Die Mitglieder trafen sich regelmäßig, dabei waren sicher auch ehemalige Fieseler-Mitarbeiter, die den Tagebuchautor in den vierziger Jahren kennengelernt hatten; denn einige gehörten auch zum Aufsichtspersonal. Ich wohnte erst seit Anfang der 70er Jahre in der Siedlung, interessierte mich für deren Geschichte und begann, sie aufzuschreiben.
Das Thema „Zwangsarbeit“ wurde in den mir vorliegenden Aufzeichnungen und bei den Gesprächen mit den ehemaligen Mitarbeitern grundsätzlich nicht erwähnt, wenn ich danach fragte, wurde mir von älteren Fieseler-Mitarbeitern sofort klar gemacht, dass es niederländische Zwangsarbeiter nicht gab, es handelte sich um „Fremdarbeiter“, die in Holland angeworben worden waren und hier freiwillig arbeiteten. Was stimmte denn nun? Richtig war, dass diese Arbeiter in Lagern oder Privatwohungen untergebracht waren, entlohnt wurden, und in ihrer Freizeit keinerlei Ausgangsbeschränkungen hatten. Rob Reijnierse, Gerts Sohn, schrieb mir nun, dass es das Wort „Fremdarbeiter“ im Holländischen gar nicht gab. Er schreibt, dass sein Vater plötzlich nach Deutschland abreisen musste, weil die Deutschen drohten, sonst seine Mutter und Geschwister in ein Konzentrationslager (KZ) einzuweisen. Für mich ist diese Aussage der „Missing Link“ für den Begriff „Zwangsarbeit“, denn wie anders hätte man diese Arbeit sonst nennen können? Nachträglich fand ich auch bei Gunnar Richter und Christian Kluck weitere Klarstellungen.
Die Fahrt nach Deutschland
Aber lassen wir doch Gert Reijnierse die Fahrt nach Deutschland selber erzählen. Sie können sich den von mir übersetzten Text unten herunterladen oder auch den Originaltext über den angegebenen Link aufrufen.
Der Tagebuchschreiber schildert, dass ihn im Zug ein Mädchen fragte, ob er freiwillig nach Deutschland käme: "Nein, natürlich gezwungen“. „Sind die anderen auch nicht freiwillig? "Nein Fräulein, kein Holländer kommt freiwillig". „Gibt es viele Holländer, die mit Deutschen zusammen kämpfen?“ „Nein, Fräulein, dass sind nur einzelne“. „Was sind Sie von Beruf?“ "Büroangestellter". Mit einem Lachen wurde die Frage beantwortet: „Gibt es in Holland keine anderen Arbeitsstellen?“ "Wieso? Von zehn Holländern arbeiten neun im Büro“.
Zu Beginn des Tagebuchs schreibt er: „Dies ist die Geschichte eines Zwangsarbeiters, der bei Fieseler in Kassel eingesetzt wurde.Niederländische Zwangsarbeiter werden seit Jahren ignoriert und ungerecht behandelt.Deshalb sollte diese Geschichte ihren Platz in der Geschichte erhalten, in Erinnerung an den Schriftsteller und seine vielen Leidensgenossen.Die Geschichte wurde in den Tagen der Befreiung und in den Wochen danach geschrieben, bevor sie in die Niederlande zurückkehrten.“
Sein Sohn schrieb mir nun, dass sein Vater das Tagebuch eigentlich mit dem Teil über die Befreiung durch die Amerikaner begonnen hat und danach erst die ersten Monate seiner Arbeit beschrieb. Rob hat das Buch erst nach dem Tod seines Vaters gefunden und es dann veröffentlicht.
Etwas weiter schreibt der Autor: „Endlich hatten sie mich dann auch vorgeknöpft. Jahrgang (19)23 und 24 wurde vollständig nach Deutschland gebracht, damit konnte ich meine Papiere und meinen Nachweis der Befreiung von der Arbeit in Deutschland sicher wegwerfen.“
Das bedeutet, dass die Menschen jahrgangsweise erfasst wurden. Das Ganze spielte sich in 1943 ab, nachdem die Niederlande bereits drei Jahre von den Deutschen besetzt waren. So wurden von 1940 bis 1945 fast eine halbe Million Niederländer für die Arbeit in Deutschland „angeworben“. Sie hatten auch gar keine andere Wahl, weil sie sonst keine Arbeitslosenunterstützung mehr bekommen hätten, es wurde sogar KZ-Einweisung angedroht.
Diejenigen, die sich zunächst für die Arbeit in Deutschland freiwillig gemeldet hatten, wurden nach der Vertragslaufzeit dann dienstverpflichtet und waren somit auch zu Zwangsarbeitern geworden. Für Kriegsgefangene galt das sowieso und für einige Deutsche sogar auch.
„Im Zuge der sog. ‚Jahrklassenaktionen‘ wurden ganze Jahrgänge junger Männer zur Meldung in der für sie zuständigen Außenstelle des Reichsarbeitsbüros aufgerufen. Sofern sie keine Atteste oder Bescheinigungen vorweisen konnten, die sie vom Reichseinsatz freistellten oder keine ernsten physischen Schäden aufwiesen, die einen Arbeitseinsatz unmöglich gemacht hätten, wurden sie registriert und – mitunter ohne Rücksicht auf ihre berufliche Qualifikation – auf Arbeitsstellen im gesamten Reichsgebiet verteilt.“ (Kuck, s. u.)
Razzia in Rotterdam 1944
[Übersetzung: „Auf Befehl der Deutschen Wehrmacht müssen sich alle Männer im Alter zwischen 17 und 40 Jahren für den Arbeitseinsatz anmelden. Dazu müssen sich alle Männer dieses Alters unmittelbar nach Empfang dieses Befehl mit der vorgeschriebenen Ausrüstung auf die Straße stellen. Alle anderen Bewohner, auch Frauen und Kinder, müssen in den Häusern bleiben, bis diese Aktion beendet ist. Die Männer der genannten Jahrgänge, die bei einer Hausdurchsuchung im Haus angetroffen werden, werden bestraft, indem auf ihren Privatbesitz zugegriffen wird. Nachweise von Freistellungen von zivilen oder militärischen Behörden müssen zur Kontrolle beigebracht werden. Auch solche, die solche Nachweise haben, sind verpflichtet, sich auf die Straße zu begeben. Es muss mitgebracht werden: warme Kleidung, feste Schuhe, Decken, Regenschutz, Essgerät, Messer, Gabel, Löffel, Trinkbecher und Butterbrote für einen Tag. Mitgebrachte Fahrräder bleiben Eigentum des Besitzers. Die tägliche Vergütung besteht aus guter Kost, Tabakwaren und fünf Gulden. Für die zurückgebliebenen Familienangehörigen wird gesorgt. Es ist allen Einwohner der Gemeinde verboten, ihren Wohnsitz zu verlassen. Auf jene, die versuchen zu fliehen oder Widerstand leisten, wird geschossen.“]
In der zweiten Hälfte des Jahres 1944 gingen die Besatzer infolge der stetig nachlassenden Erfolge bei der Aufbringung niederländischer Zwangsarbeiter und der zunehmenden Verschlechterung ihrer militärischen Lage in Europa zu gewalttätigen Arbeitskräfte-Razzien in allen der zu dieser Zeit noch besetzten Teilen des Landes über. So konnten zwischen Herbst 1944 und dem Kriegsende noch einmal ungefähr 140.000 niederländische Männer nach Deutschland deportiert werden. U. a. durch eine Razzia in Rotterdam am 10. und 11. November 1944, bei der 54.000 Männer zwischen 18 und 40 Jahren festgenommen und nach Deutschland verfrachtet worden waren. Zum einen wollten die Besatzer mit dieser Maßnahme die kurzfristige Bereitstellung zusätzlicher Arbeitskräfte für den Verteidigungsbau im Frontgebiet und das Trümmerräumen in Deutschland erreichen. Zum anderen wollten sie verhindern, dass sich die noch in den Niederlanden befindlichen (jungen) Männer bei Näherrücken der Front den alliierten Streitkräften zum Kampf gegen Nazi-Deutschland anschließen würden.
Ankunft in Kassel
Aber jetzt wieder zurück zu unserem Tagebuchschreiber. Als Gert nun in Kassel angekommen war - eigentlich dachte er, er käme nach Frankfurt - schildert er seinen ersten Tag: „Nun ging alles ganz schnell. Ein Auto kam, um unsere Koffer abzuholen, wir selbst marschierten in Dreierreihen, bildeten eine lange Schlange... Wir waren auf dem Weg zu unserer Fabrik oder besser gesagt, zu unserem Lager, in dem wir von nun an leben sollten. Wir waren wieder in bester Stimmung und gingen direkt durch Kassel auf unser „Schicksal“ zu. Nach ungefähr einer Stunde Fußmarsch kamen wir in einem schmuddeligen Lager an, wo wir in einer großen Kantine verpflegt wurden. Keiner von uns konnte die Suppe essen, wir waren angewidert und gaben unser Essen an russische Männer oder Frauen, die hier bereits herumliefen und anscheinend hier im Lager lebten. In einer anderen Kantine wurden wir registriert, erhielten zwei Decken, einen Becher, Brot, Butter, Wurst und stinkenden Käse, den wir den Russen zuwarfen. Wir marschierten dann nach Waldau, wo das Lager war, in dem wir von nun an leben würden - nein mussten. Wir mussten unsere Koffer eine halbe Stunde lang schleppen und dann waren wir endlich da. Todmüde. Die Stimmung war am Boden. Unterwegs hatten wir mit mehreren unserer Jungen gesprochen, die seit sechs Monaten in Waldau lebten. Diesen Jungen zufolge war es so miserabel, dass wir es nicht schlimmer hätten treffen können. Deprimiert saßen wir zwischen unserem Gepäck vor der Kantine. Ich hätte heulen können. Wir bekamen Brei in der Kantine und gaben die Hälfte wieder den niederländischen Lagerbewohnern, die uns das Essen mit gierigen Augen fast schon aus dem Mund geschaut hatten.
Erstes Wochenende in Kassel
Das erste Wochenende schildert er folgendermaßen: „Wir gingen mit einer Gruppe nachmittags nach Kassel, am Abend noch einmal, besuchten mehrere Cafés, tranken viel Bier und bekamen verschiedenes Essen ohne Lebensmittelmarken. Am Sonntag machten wir es genauso. Wir aßen an diesem Tag für 5 Mark Eis. Ich bemerkte es bald. Es wird hier eine totlangweilige Zeit sein. Ich bemerkte bald, dass Ausländer in Kassel überhaupt nicht gern gesehen wurden und so hielten wir auch Abstand zu den „Krauts“. In Kassel gab es viele Holländer und Franzosen. Überall in der Straßenbahn, in Cafés, Kinos und auf der Straße konnten wir unsere Muttersprache sprechen“. [Wie ich jetzt las, soll die Ablehnung durch die Deutschen u. a. aus Neid entstanden sein, weil diese Personen bezahlte Arbeit hatten, während deutsche Männer im Krieg kämpfen mussten und vielleicht nicht mehr zurückkamen.]
Am kommenden Montag wurde die Gruppe dann in eine große Halle gebracht, um dort 6 Wochen lang ausgebildet zu werden. Nach Tests wurden bereits handwerklich Ausgebildete bald an ihren Arbeitsplatz gebracht. Kollegen, die sich sperrten, erhielten danach sehr unangenehme Arbeiten.
Das Werk gefiel ihm, zwischen den Hallen gab es Fußwege, Straßen und Rasenflächen, es war ja eine „vorbildlich nationalsozialistische Fabrik“, ein Modellunternehmen, dennoch meint er, dass er das nicht so sah. Drei Wochen nach dem ersten Luftangriff sah alles ganz anders aus. Er schreibt über den Luftalarm: „Den Deutschen ging das auf die Nerven, die Ausländer blieben ruhig und genau wie in Holland dachten die meisten natürlich, dass nichts passiert.“
Unser neue Unterkunft
Uns wurde eine Baracke zugewiesen.Vierundzwanzig Männer in einem Raum.Wir füllten Strohsäcke mit Holzwolle und warfen sie nebeneinander auf den Boden.Am nächsten Tag sollten wir Betten zusammenbauen.Es gab keine Schränke.Als wir unsere Matratzen gefüllt und uns im Waschraum frisch gemacht hatten, hatte der größte Teil der Niedergeschlagen die Kontrolle wiedererlangt und am Abend waren alle wieder in bester Stimmung.“
Bombardierung
In den nächsten Wochen wiederholten sich die Angriffe, sie trafen aber in erster Linie die Junkers Flugmotorenwerke. Im Waldauer Lager aber gab es 17 Tote, die in einem Luftschutzgraben direkt getroffen wurden. Bei einem anderen Alarm flüchteten die Arbeiter an die Fulda zwischen „Büsche und Schilf“.„Wir saßen kaum im Gras, als wir ein Summen hörten, und kurz danach begannen die Flugabwehrgeschütze zu schießen. ... Splitter summten in der Luft, links und rechts fielen Splitter und über allem war das Dröhnen der Flugzeuge. Dann begann ein Summen, das immer lauter wurde: das Geräusch von Bomben, die in Massen abgeworfen wurden. Das Summen wuchs, ließ dann nach und plötzlich dröhnte der Boden durch den Aufprall der Bomben. Niemand wagte zu schauen. Das Abfeuern der Flugabwehr nahm ab und etwas später wurde es wieder stärker, als sich eine neue Formation näherte. Wieder flogen die Bomben über unsere Köpfe und schlugen hinter uns ein. Wir hatten Angst. Einer betete laut. Es war noch nicht vorbei; eine dritte Formation kam. Jetzt kräuselte sich der Boden unter uns wie bei einem Erdbeben. Gleich hinter uns, etwa 50 Meter entfernt, schlugen die Bomben in die Wiese ein. Es wurde jetzt still und wir wagten es, einen Blick darauf zu werfen. Nebel war aufgekommen. Wir sahen, dass unsere Fabrik genauso brannte wie Junckers. Langsam gingen wir zurück ins Lager. Dort waren wieder Bomben eingeschlagen, direkt neben unserer Baracke. Nur die beiden vorderen Räume, einschließlich unserer, waren nur teilweise versehrt. Meine Sachen waren alle in Ordnung, also hatte ich wieder Glück“. Die Männer wurden dann zum Schlafen in einen Hangar in Waldau gebracht, wo jetzt 300 Mann untergebracht waren.
Arbeitsalltag
Er schildert jetzt seinen Arbeitsalltag, indem er sagt, dass es auch Deutsche gab, die menschlich zu den Zwangsarbeitern waren. Bei den Siedlertreffen sagte mir ein ehemaliger Fieselermitarbeiter unter vorgehaltener Hand: „Der x hat den (Zwangsarbeiter) so in den Arsch getreten, dass er in eine Tonne fiel“. Gert schreibt über einen anderen:
„Wir haben jetzt auch Deutsche kennengelernt, die zumindest etwas menschlich waren. Ich sprach mit einem Werkschutzmann, der mir sagte, dass die Ausländer seiner Meinung nach völlig falsch behandelt würden. Indem wir dir schlechtes Essen geben und dich schneiden, schaffen wir bei dir nichts als Hass auf uns, sagte er, und das beleidigte ihn. Einmal, als wir mit einem Wagen im Gras rauchten, kam er auf uns zu und die meisten löschten schnell ihre Zigaretten und standen auf. Sie dürfen während der Arbeit nicht rauchen, sagte er, das ist Vorschrift; Ihr wisst das, oder? Niemand sagte etwas und ich sah ihn misstrauisch an. Dann fing er an zu lachen und sagte, warum rauchst du nicht mehr? „Du verbietest es, sagte einer von uns gerade“. „Verbieten?“ „Ich sagte, während der Arbeit dürft Ihr nicht rauchen, aber Ihr arbeitest jetzt nicht, oder?“ Alle zündeten sich ihre Zigaretten wieder an. Später brachte er uns manchmal heimlich einige Äpfel oder Birnen, die er gepflückt hatte, aber er bat uns immer wieder, nicht darüber zu sprechen, da er sonst eine schwere Strafe erhalten würde.“
Werksschulung
Er spricht dann wieder von der Schule: „Es war damals nicht einfach und wenn die Krauts meinten, dass wir absichtlich alles falsch machten oder dass wir nichts getan hätten, wurden wir bestraft. Das war immer mit einem großen Gebrüll begleitet, sie dachten sicherlich, wir wären taub oder wir stellten uns nur taub. Normalerweise bekam man zur Strafe eine Feile in die Hand, die so groß, grob und schwer war, dass es fast unmöglich war, sie zu handhaben. Und dann musste man ohne Pause feilen, und dann war es auch noch falsch. Die Jungen, die das Pech hatten, waren am Ende nicht in der Lage, damit fertig zu werden, und wenn sie ihre Hände vollständig öffneten, bereitete das schreckliche Schmerzen. Die meisten von ihnen waren jedoch geschickt und verschwendeten nur Material, ohne dass sie etwas Anständiges daraus machten.“ An seiner Arbeitsstelle musste er Schrauben und Muttern für Werkstücke zählen, es gab aber gar nicht so viel Arbeit. Da gab ihm sein Vorgesetzter den guten Rat, er solle durch nur so tun, als würde er Schrauben zählen und an einer anderen Stelle erhielt er den Rat, schön langsam zu arbeiten, nur wenn ein „Höherer“ in der Nähe war, sollte er sich richtig anstrengen. Später musste er auch Nachtschichten übernehmen. Da aber auch hier die Arbeit weniger intensiv war, bauten sich die Kollegen eine Schlafstelle zwischen Reifen und ruhten hier abwechselnd. Am Wochenende gingen sie gerne nach Waldau ins Gasthaus: „...hier gab es Essen ohne Marken. Das war billig und gut, aber es gab immer nur Suppe. In Deutschland war es üblich, dass bei der Bestellung automatisch Bier serviert wurde. Wenn sie Ihr Glas geleert hatten, wurde es wieder nachgefüllt, bis man sagte, man wollte nicht mehr. Das Essen im Lager wurde immer schlechter.
Bombardierung im Oktober 1943
Am 3. Oktober 1943 gab es wieder Bombenalarm: „Wir blieben alle ruhig in unserer Baracke. Es wurde geschossen und einige von uns gingen in einen Schutzgraben, der sich im Bau befand. Die Schüsse wurden immer heftiger und alle rannten aus der Baracke, weil Bomben fielen. Draußen sah ich, wie über den Junkers Werken leichte Leuchtfallschirme abgeworfen wurden. Das bedeutete, dass es wild wurde. Am Eingang des Schutzgrabens befand sich eine Menschenmenge, und bevor ich eintreten konnte, wurde ich durch den Luftdruck der fallenden Bomben so umgeworfen, dass ich ein Paar gebrochene Knie hatte. Im Schutzgraben war es ein Chaos, einige hatten Angst, andere nicht. Ich legte mich an die Wand. Draußen war viel Lärm. Der Boden dröhnte von den Bomben, die wir immer wieder zischen hörten. Wenn es draußen eine Weile ruhig war, wurde in ein Loch uriniert und so weiter, was einen unbeschreiblichen Gestank verursachte. Schließlich wurde es endgültig still und wir machten uns auf den Weg nach draußen. Draußen tobten mehrere Feuer. Unser Lager wurde dadurch beleuchtet. Wir sahen bald, dass Junkers in Flammen stand und dass auch Werk 1 betroffen war. Alle mussten eingreifen, um bei Werk 1 zu helfen. Ich schaffte es wegen meiner gebrochenen Kniee, die mir ein Sanitäter verbunden hatte, herauszukommen. Bald kamen alle zurück, da niemand in Werk 1 arbeiten durfte. Halle 10 und Halle 11 standen in Flammen und einige andere Hallen brannten. Wir haben in dieser Nacht friedlich geschlafen und am nächsten Tag gesehen, dass der Angriff wieder äußerst erfolgreich war. Abgesehen von den Hallen 10 und 11, die vollständig zerstört waren, wurde auch die halbe Halle 24 schwer getroffen, ebenso das Kameradschaftshaus und einige Hallen, darunter das Erica-Gebäude. Junkers und Henschel wurden ebenfalls schwer beschädigt, wie wir später sahen. Die Aufräumarbeiten wurden sofort begonnen. Das Lager Warteland, das sich zwischen Junckers und Fieseler befand, wurde ebenso wie die Häuser in der Nähe und natürlich unsere Nachbarn, die Spinnfaser, erneut getroffen. Alle noch stehenden Teile der Hallen wurden bald geschlossen und vor Halle 11 eine Notaufnahme eingerichtet. Halle 24 war ebenfalls wieder instand zu setzen und zu benutzen.”
Was von Kassel übrig blieb
Danach verließen sie den Bunker: "Als ich endlich am Ausgang ankam, sah ich draußen in der Ferne ein seltsames Licht. Als ich nach draußen kam, sah ich, dass Kassel in Flammen stand. Es war ein mächtiger Anblick. Es war warm und man hörte nichts als das Knistern der Flammen und ab und zu hörte man etwas zusammenbrechen. Nur Fieseler brannte nicht. Auf das Werksgelände war keine Bombe abgeworfen worden. ...Wir mussten uns sammeln und zurück zum Lager marschieren. Auf dem Weg bei Junckers kamen mehrere schwere Feuerwehrautos an uns vorbei. Die Fabriken waren wichtiger als die Stadt. ... Es tat allen leid, dass Fieseler diesmal nicht getroffen worden war. Dann gingen die meisten von ihnen in die Stadt, um nachzusehen, ob es etwas zu essen gab. Die Stadt stand immer noch in Flammen. Es gab unzählige Opfer. Die meisten von ihnen waren in den Kellern unter den Häusern erstickt. Überall lagen dichte Reihen von Toten, die Haut zerrissen und anscheinend erstickt. Man sah auch viele Soldaten. Das Haus für höhere Offiziere wurde vollständig zerstört. Zahlreiche Offiziere waren hier getötet worden. An vielen Orten wurde Essen ausgeteilt, von dem wir profitierten. Man musste aufpassen, dass sie dich nicht am Kragen packten, um dich in die Keller zu schicken, um Leichen herauszuholen. ... Nach einigen Tagen war es jedoch ratsam, die Stadt nicht mehr zu betreten, da die Polizei und die Gestapo Ausländer festnahmen, um diese bei den Aufräumarbeiten helfen zu lassen. Es gab keinen Strom und das Werk wurde deshalb geschlossen. Ich musste helfen, Blech für den Austausch zerbrochener Fenster zu schneiden.“
Kriegsende
Damit endet die Schilderung der Arbeit bei Fieseler. Der Autor beschreibt dann die letzten Tage, bevor die Amerikaner kamen. Die Fabrik war nach Möchehof ausgelagert worden, in den letzten Tagen versteckten sich die Arbeiter im Wald, bis die ersten amerikanischen Fahrzeuge eintrafen, denen man entgegenlief: „Am Rande des Waldes sahen wir tatsächlich neben dem Weg einen Kübelwagen mit zwei amerikanischen Soldaten auf der Straße. Schnell liefen wir zu ihnen hinunter und begrüßten die beiden Soldaten mit „Good bye, we are Dutschmen, how do you do“ Wir erzählten die ganze Geschichte und hörten von ihnen, dass Mönchehof in dieser Nacht gefallen war. Wir bekamen eine Packung echte amerikanische Zigaretten und gingen dann zurück, um die guten Nachrichten den anderen mitzuteilen“
Nachwort
Von 1930 bis 1945 wurden in den Fieseler-Werken 2092 selbst entwickelte Flugzeuge gebaut und 4795 in Lizenz. Dazu wurden bis zu 6000 Zwangsarbeiter eingesetzt. Erst im Buch mit den Gedichten von Wim de Vries erfährt man von der schlechten Behandlung dieser Arbeiter. Von den ehemaligen deutschen Arbeitnehmern hörte man dazu so gut wie nichts, auch nicht nach dem Krieg, hier galt wohl „Corpsgeist“. Gerhard Fieseler selbst war Anfang 1944 von den Nazis wegen "politischer Unzuverlässigkeit" durch einen linientreuen Kommissar ersetzt worden, Betriebsführer blieb er nun zum Schein. Wahrscheinlich griff er in den Augen der Machthaber nicht hart genug durch. Ein Kontrolleur schrieb: “Bei Herrn Fieseler steht in erster Linie die soziale Betreuung seines Werkes, während er von den Fertigungsmöglichkeiten nichts weiß“ (R. Nagel). Die neue Leitung führte dann die 72-Stunden Woche ein, von Montag bis Samstag wurden 12 Stunden täglich gearbeitet. Nagel schreibt: „Die Menschlichkeit, die Fieseler in seinem patriarchalischen Führungsstil gepflegt hatte, ging verloren. … es regierte Angst und Misstrauen...Strengste Bestrafungen erfolgten bei geringfügigen Anlässen. Dabei sollen Zwangsarbeiter sogar zu Tode verurteilt worden sein.“ Nach Heinrich Peter verdoppelte sich so aber die Produktion.
Gert Reijnierse war zuletzt im Lager Mönchehof untergebracht, wo er dann noch 2 Monate von den Amerikanern beschäftigt wurde. In dieser Zeit schrieb er auch sein Tagebuch.
Autor: Falk Urlen, März 2021
Quellen und weiterführende Links
Quellen
Die Aufzeichnungen von Gert Reijnerse wurden von seinem Sohn Rob veröffentlicht in: https://belevenissenvaneendwangarbeider.wordpress.com
Kluck, Christian: Niederländische Zwangsarbeiter für den Reichseinsatz; in „WWU Münster, Niederlandenet“ www.uni-muenster.de/NiederlandeNet/nl-wissen/geschichte/zwangsarbeit/index.html
Nagel, Rolf; Bauer, Thorsten: Kassel und die Luftfahrtindustrie seit 1923
Reijnierse, Rob: Erläuterungen in einer Email vom 05.03.2021
Richter, Gunnar: Niederländische Zwangsarbeiter während des 2. Weltkrieges in Kassel
Urlen, Falk: Übersetzung des Tagebuchs von Gert Reijnierse ins Deutsche
Im Wesentlichen habe ich die Fotos verwendet, die im Tagebuch vorhanden waren.
Anmerkungen und ergänzende Links
Das Lager Wartheland war auf dem Gelände des Kleingärtnervereins-Forstgelände gebaut worden.
Die Entwicklung der Luftfahrtindustrie im Kasseler Osten
Gerhard Fieseler und seine Werke
Erster Marschflugkörper der Welt wurde in Bettenhausen entwickelt
Fieseler "V1" aus Bettenhausen
Wir Schaffner hatten Angst vor den Frauen
Bilder zu Bombenangriffen auf den Kasseler Osten
Dokumente zum Herunterladen
Wo spielt dieser Beitrag?
Kurzbeschreibung
Ein niederländischer Zwangsarbeiter beschreibt in seinem Tagebuch, wie er nach Kassel kam und welche Arbeiten er bei den Fieseler-Werken ausführen musste. Er beschreibt die Lebensumstände im Lager und in Kassel, besonders die Zeit der Luftangriffe auf das Werk und die Stadt.Schließlich beschreibt er die Situation am Kriegsende.
Der Autor verknüpft diese Schilderung mit persönlichen Erinnerungen, die er als Vorsitzender der ehemaligen Fieseler-Siedlung gemacht hat.
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