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Von der Spinnfaser zur Enka - 50 Jahre Faserproduktion in Kassel
- Autor: Geschichtskreis "Bettenhausen früher und heute"
- Zeit: 1934
- Ort: Industriegebiet Lilienthalstrasse/Wohnstrasse
- Vom: 08.12.2012
- Themen: Firmen- und Industriegeschichte, Industrie und Gewerbe
Auf dem Gelände der ehemaligen Munitionsfabrik an der Lilienthalstraße wurden von 1934 bis zur Stilllegung in 1984 Textilfasern hergestellt. Bei Produktionsbeginn in 1934 wurden Arbeiter aus Rheinlandpfalz angeworben und in Kassel in der Nähe des Eichwaldes angesiedelt. In Spitzenzeiten waren bei der Spinnfaser AG nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu 2300 Menschen beschäftigt. Die Schornsteine des leistungsfähigen Kraftwerkes und der Fabrikationsstätten prägten fünf Jahrzehnte lang das östliche Stadtbild von Kassel. Die stinkenden Abgase machten das Leben in Bettenhausen fast unerträglich. Die Konzernzentrale in Wuppertal plante ab 1980 die Verlagerung der Fabrikation in ein Land mit geringeren Umweltauflagen. Im Mai 1984 wurde das Werk in Kassel endgültig stillgelegt und die letzten 800 Mitarbeiter standen nach erfolglosem Arbeitskampf auf der Straße.
Im Jahre 1934 suchten die Vereinigten Glanzstoff-Fabriken AG Wuppertal-Elberfeld eine weitere Produktionsstätte für die Zellwolleherstellung. Wie der Zufall es wollte, „eine Autopanne in Kassel-Bettenhausen“ kam den Suchenden zu Hilfe, und man entschied sich letztendlich für eine Ansiedlung in Kassel. Dieses geschah nicht ohne Grund, gab es doch in diesen Jahren in Kassel ca. 5000 Arbeitslose sowie große leer stehende Fabrikationshallen an der Lilienthalstraße und das Verwaltungsgebäude an der Wohnstraße (ehemalige Munitionsfabrik). Wichtig waren auch die hessischen Braunkohlezechen mit den vorhandenen Gleisanschlüssen zum Bahnhof Bettenhausen. Die Nähe der Fulda zur Versorgung mit ihrem für die Zellwollproduktion weichen Wasser (Härtegrad von 4o DH) war besonders wichtig.
Am 3. Mai 1935 wurde der Grundstückskaufvertrag zwischen der Industrieanlagen GmbH Berlin und der Spinnfaser AG abgeschlossen. Der Startschuss zum Aufbau des Werkes in Kassel war gegeben. Noch vorhandene Fabrikationsgebäude wurden umgebaut, instand gesetzt, Rohrleitungen zur Wasserversorgung verlegt, Filterbecken mit Filterhaus, ein Wasserturm, ein Flusspumpwerk an der Fulda, ein großes Klärbecken für die Abwässer errichtet.
Ein zweites modernes Kesselhaus sowie zwei neue 100 Meter hohe Schornsteine für die entstehende Zellwollefabrik wurden gebaut. Die Zeit drängte, man wollte in fünf bis sechs Monaten mit der Produktion beginnen und strebte für den Anfang bis zu neun Tagestonnen Zellwolle an. Am 13. November 1935 war es dann so weit, dass die ersten beiden Spinnmaschinen mit einer Produktion von 4,5 Tagestonnen anliefen. Ende September 1935 konnten zwei weitere Spinnstraßen angelegt und die Produktion auf neun Tagestonnen erhöht werden. Zu diesem Zeitpunkt zählte die Belegschaft 572 Lohnempfänger und 103 Angestellte. Hinzu kamen noch 1436 Mitarbeiter von Fremdfirmen. Im Jahre 1936 ging der weitere Ausbau der Fabrik mit der Erstellung des ersten Hochdruckkessels und der modernen Dampfturbinen, die die Stromversorgung übernahmen, schnell voran. Nachdem bis Juni 1936 bereits 24 Spinnmaschinen mit einer Gesamtproduktion von über 50 Tagestonnen installiert waren, war die Spinnfaser AG Kassel zur damals größten Zellwoll-Erzeugnisstätte Europas geworden. Dieses schnelle Anwachsen der Produktion hatte auch einen starken Bedarf an Arbeitskräften zur Folge, welcher aus dem Kasseler Raum nicht mehr gedeckt werden konnte, und es wurden Menschen aus dem süddeutschen Raum nach Kassel geholt. Im März 1936 trafen die ersten 82 Arbeiter aus dem Raum Worms (damals Notstandsgebiet) ein. Vielen von ihnen wurde mit 59 Eigenheimen in der Siedlungsaktion „Wormser Siedlung“ an der Bunten Berna in Kassel-Bettenhausen zwischen Eichwald und Heiligenrode eine neue Heimat gegeben. Es entstanden außerdem zwischen 1937 und 1939 in der Lilienthalstraße zehn Mehrfamilienhäuser und 29 Wohnungen bzw. Eigenheime. Im Jahre 1939 verfügte der Betrieb über 123 Werkswohnungen.
Die Kapazität des Werkes erhöhte sich ständig und erreichte bis Ende 1939 eine Tagesproduktion von 100 Tonnen, und die Marke „FLOX“ wurde zu einem Begriff in vielen Ländern.
Ab dem Jahre 1937 wurden mehrere soziale Einrichtungen im Werk geschaffen: Im Gebäude der ehemaligen Werkswäsche (Bau 5) wurde ein Bad, bestehend aus 11 Wannen und 16 Brausen errichtet. Im Bau 25 wurden Gemeinschaftsräume ausgebaut. Eine Betriebssportgemeinschaft wurde gegründet und ein Sportplatz wurde gebaut. Hinzu kamen eine Wandergruppe, eine Singschar, eine Schachgruppe, eine Werksbücherei und verschiedene Arbeitsgruppen. Der im Februar 1938 gebildeten Werkskapelle gehörten 15 Männer mit Blas- und Streichinstrumenten an.
Im Jahr 1937 fand auch erstmals eine ärztliche Untersuchung der gesamten Belegschaft durch zehn Arbeitsmediziner statt. Ein Sanitätsraum, betreut von einer Rote-Kreuz-Schwester, bestand bereits seit dem 1. August 1935.
Die 1935 aufgestellte Werksfeuerwehr löschte am 1. Januar 1935 den ersten Brand im Werk: Der Dachstuhl des alten Kesselhauses brannte.
Am 4. April 1938 wurde eine Lehrlingswerkstatt eröffnet, und in der Werksküche gab es am 1. Februar 1939 die erste Essensausgabe. Täglich wurden bis zu 500 Essen für die Beschäftigten zubereitet.
Dann kam der Krieg mit all seinen schrecklichen Folgen. Mehrere Hundert Belegschaftsmitglieder wurden zum Kriegsdienst einberufen. Per Gesetz wurde die allgemeine Arbeitspflicht für Frauen eingeführt, welche die Lücken im Betrieb wieder ausfüllen mussten. Damit ihre Kinder versorgt waren, wurde 1941 ein Betriebskindergarten für 50 Kinder eingerichtet. Außerdem wurden die ersten Zwangsarbeiter beschäftigt. Durch die Anzahl der großen Rüstungsbetriebe, welche kriegswichtige Teile herstellten (Henschel, Fieseler, Junkers usw.), stand Kassel bei den alliierten Luftflotten ganz oben auf der Zerstörungsliste. Die Stadt selbst musste im Laufe des Krieges über 40 Luftangriffe über sich ergehen lassen und wurde zu ca. 80 % zerstört. Das Werk der Spinnfaser wurde sechsmal schwer und sechsmal leicht von Bomben getroffen. Hunderte von Spreng- und Brandbomben sowie einige Luftminen trafen die Werksanlagen und Einrichtungen, auch Menschenleben waren zu beklagen. Immer wieder wurden die Produktionsanlagen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln repariert und erneut in Gang gebracht. Der immer stärkere Produktionsausfall war nicht mehr auszugleichen.
Infolge eines schweren Luftangriffs am 19. April 1944 kam die Produktion vier Monate völlig zum Erliegen. Das Werksgelände war ein Trümmerfeld.
Die Produktion erreichte 1945 nur noch ein Ergebnis von 3,5 Tagestonnen bei einer Belegschaft von 980 Personen.
Mit dem Einrücken der amerikanischen Truppen am Ostermontag, dem 3. April 1945, war für die Stadt und für das Werk der Krieg zu Ende.
Weil das Kesselhaus der „Spinnfaser“ voll einsatzfähig geblieben war und die schwer zerstörte Stadt Kassel mit Strom versorgt werden musste, wurden die beiden 100 m hohen Schornsteine, die den Flugzeugen der Amerikaner beim An- und Abflug zum Waldauer Flugplatz eigentlich im Wege standen, nicht abgerissen, und somit bekam das Werk die Genehmigung zur Wiederaufnahme der Produktion.
Man begann ganz bescheiden und konnte die Leistung bis zur Währungsreform im Juli 1948 wieder auf 25 Tagestonnen steigern. Es wurden moderne Maschinen und Anlagen angeschafft, sodass bereits 1951 die Vorkriegsleistung von 100 Tagestonnen wieder erreicht wurde. Mehr als 2300 Arbeitnehmer waren jetzt im Werk beschäftigt.
Im Jahr 1954 wurden die letzten Kriegsschäden beseitigt, sodass im Jahr 1957 die 500000ste Tonne Zellwolle seit Bestehen des Werkes produziert werden konnte. Außerdem führte man die 45-Stunden-Woche ein.
Bereits 1949 konnten erstmalig 63 Betriebsangehörige durch das Erholungswerk einen kostenlosen 14-tägigen Urlaub in Bad Hersfeld verbringen. 1950 kam der Erholungsort Oberstoppel in der Rhön und 1951 Niederwerbe am Edersee hinzu. Später folgten Schwarzenborn im Knüll und Tann in der Rhön hinzu. In den ersten Jahren konnten nur Betriebsangehörige dieses Angebot annehmen, die Ehegatten wurden erst später mit einbezogen.
Im Jahre 1951 wurde ein hauptamtlicher Werksarzt eingestellt. Die Einrichtung einer Betriebskrankenkasse wurde 1952 vom Oberversicherungsamt genehmigt.
Die Zellwollproduktion war der „Wetterbericht“ für den Kasseler Osten, denn je nach Windrichtung hieß es: „Die Spinnfaser stinkt mal wieder“. Es waren die Abgase von Schwefelkohlenstoff und Schwefelwasserstoff, welche durch den Produktionsvorgang der Zellwolle anfielen. Diese Geruchsbelästigung wurde 1955 durch den Einbau einer großen Gasreinigungsanlage beseitigt. Bis Ende April 1956 wurden sogar 1000 Tonnen Schwefelkohlenstoff zurückgewonnen.
Die billigen Einfuhren von Zellwolle führten zu starken Preissenkungen, welche die Rentabilität der Werke bedrohten. Die Rationalisierungen im Betrieb wurden verstärkt, neue Automaten angeschafft und natürliche Abgänge von Mitarbeitern im Betrieb und in der Verwaltung nicht mehr besetzt.
Nach dem 25. Jubiläumsjahr 1960 schuf man sich ein zweites Standbein, ein neues Werk für die Herstellung von synthetischer Polyesterfaser wurde unter dem Namen „Diolen Faserfabrik“ gegründet. Die Anfangskapazität betrug 10 Tagestonnen.
Zehn Jahre später (1970) beschloss der Enka-Vorstand, noch eine Perlon-Fabrik zu errichten, um so eine Konzentration der Synthesefaserproduktion in Kassel-Bettenhausen zu erreichen. Die Produktionsmenge betrug vier Tonnen Perlon täglich. Das benötigte Personal stand durch werksinterne Umsetzung zur Verfügung.
Das weltweite Anwachsen der Synthesefaserproduktion hatte bereits Ende der sechziger Jahre einen Rückgang der Zellwollenachfrage eingeleitet. Diese Entwicklung führte noch im Jahre 1971 zur Einstellung der Normal-Zellwollproduktion. Diese Maßnahme bewirkte einen Verlust von fast 800 Arbeitsplätzen. Als Folge der Ölkrise 1973/1974 wurde die Produktion weiter zurückgefahren, und die Belegschaft schrumpfte bis zum Jahresende 1975 auf 1126 Beschäftigte. Es wurden jetzt nur noch Synthesefasern hergestellt (Diolen und Perlon) und die „Diolenfaserfabrik“ nannte sich nun „Enka-Glanzstoffe“.
Doch der Glanz ging bald zu Ende. Immer wieder kamen Meldungen aus der Hauptverwaltung in Wuppertal, dass es auf dem Weltmarkt Überkapazitäten an synthetischen Fasern gab. Wie aus heiterem Himmel traf es die Belegschaft im Dezember 1980, als sie erfuhr, dass das Werk Kassel geschlossen würde, um die Produktion im holländischen Werk Emmen aufrecht zu halten.
Man war erschüttert über diese Mitteilung des Enka-Vorstandes, und es begann ein 2 1/2 Jahre dauernder engagierter Arbeitskampf um den Erhalt der 840 Arbeitsplätze unter der Devise „Rettet Enka“. Es wurden Protestmärsche, Werksbesetzungen, Hungerstreiks und Blockaden veranstaltet, der Rundfunk und die Tageszeitungen berichteten über das Ringen um die Arbeitsplätze. Insgesamt 50000 Unterschriften wurden für den Erhalt der Arbeitsplätze gesammelt. Es war alles Vergebens.
Den Mitarbeitern wurde am 18.11.1982 vom Enka-Aufsichtsrat mitgeteilt: „Das Werk Kassel wird stillgelegt“. In diesem Schreiben wurde den Beschäftigten ein Wechsel in ein anderes Werk oder, falls das nicht möglich war, eine Abfindung angeboten. Die Schließung erfolgte stufenweise.
Der letzte Produktionstag war der 19. Mai 1984.
Seit 1984 befindet sich auf dem Gelände der ehemaligen Enka Glanzstoff AG der Unternehmenspark Kassel (UPK) mit einer Gewerbefläche von ca. 147.000 Quadratmeter.
Text: Karl Wills, Kassel, Juni 2007, veröffentlicht in der Broschüre "Industriestandort Bettenhausen Bd.1"
Literaturnachweis:
- „25 Jahre Spinnfaser Aktiengesellschaft Kassel“
- „Eigentum verpflichtet?“, Aufstieg und Fall der Enka Glanzstoff AG von Werner Vitt, Helmut Haase u. a., 1986.
Fotos: Privatarchiv R. Ludwig, Kassel
Editor: Bernd Schaeffer, Dezember 2012
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Kurzbeschreibung
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