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Wenn ein Kastanienbaum erzählen könnte

Kastanie Leipziger Straße 116, 2020

Kastanie Leipziger Straße 116, 2020
Foto: Erhard Schaeffer, Kassel

Wer stadtauswärts auf der Leipziger Straße durch Bettenhausen fährt erkennt schon früh auf der rechten Seite in Höhe der Hausnummern 114-116 einen mächtigen Kastanienbaum. Der fast einen Meter starke Stamm zeugt von einem hohen Alter dieses Solitärs. Man fragt sich was hat dieser stolze Baum schon alles im Laufe seines langen Lebens erlebt und mitansehen müssen. Wir lassen ihn einfach mal erzählen und lesen seine kleinen Geschichten, die in der Zeit des eigenständigen Dorfes Bettenhausen am Anfang des 20. Jahrhunderts beginnen.

Zu meiner frühsten Kindheit war ich noch eine sehr kleine Kastanie und unscheinbar. Mein lateinischer Name lautet CASTANEA, was spanisch klingt, doch ich stand in einem Vorgarten an der Leipziger Straße in Bettenhausen. Die Häuser 112 bis 118 auf meiner Straßenseite hatten alle Vorgärten, waren Fachwerkhäuser mit zwei Geschossen und ihnen gemeinsam waren ein oder zwei große Erker, die zur Straße wiesen. Ihre Eigentürmer hießen Herr Riede (Mehlhändler in 112), Frau Wickmann (Witwe in 114), Herr Wickmann (Landwirt in 116) und Herr Riede in 118. Im Haus 114 führte Herr Schmidt eine kleine Kolonialwarenhandlung. Die Mietshäuser waren schon im 19. Jahrhundert errichtet worden und boten den Fabrikarbeiter- und Handwerker-Familien ausreichend Wohnraum. Bettenhausen war ehemals ein selbstständiges Bauerndorf vor den Toren der Residenzstadt Cassel, die schrieb sich damals noch mit C und nicht mit K.

Mit der Industrialisierung siedelten sich immer mehr Arbeiter im Dorf an, Bettenhausen wuchs schnell. Zu meiner Linken, etwas aus der Front, standen die Häuser (120-122) des Mehlhändlers Schmelz . Darin betrieb der Malermeister Adolf Hartung sein Maler- und Weissbindergeschäft. Ein mächtiger Schriftzug mit seinem Namen an der Giebelwand wies, für alle lesbar, auf seinen ortsbekannten Handwerksbetrieb hin. Zur Rechten gab es die ersten gemauerten Gründerhäuser mit vier Geschossen und Balkonen zur Straße. Die wohlhabenden Besitzer der Miet-/ Geschäftshäuser der Herrenschneider Menkel (108) und der Mehlhändler Riede (110) hatten damit wohl ein Zeichen setzen wollen, dass sie mit dieser Investition mit den bürgerlichen Hauseigentümern in der Stadt Kassel gleichziehen konnten. Sie warteten auf die baldige Eingemeindung in das Stadtgebiet, damit würde der Wohnwert ihrer Objekte bestimmt steigen. Ein wenig großstädtisch war Bettenhausen inzwischen schon, denn die "Große Casseler Straßenbahnaktiengesellschaft" hatte 1900 die Umstellung vom Dampf- und Pferdebahnbetrieb auf elektrischen Betrieb eingeleitet. Eine Linie verlief genau vor meinem Standort. Der Betriebsbahnhof Bettenhausen konnte bereits 1898 oberhalb an der Leipziger Straße 124 neben dem Restaurant zum Schwarzen Adler fertiggestellt werden.

Blick in die Leipziger Straße Anfang des 20. Jahrhunderts
Die Straßenbahn in der Leipziger Anfang des 20. Jahrhunderts, im Hintergrund das Haus von Malermeister Hartung und rechts davon eine kleine Kastanie  Foto: @Stadtteilzentrum Agathof e. V.

Es kam wie es kommen sollte Bettenhausen wurde 1906 eingemeindet. Der Landwirt und Bürgermeister Philipp August Müller, schloss am 31. März 1906 seine Diensträume am Dorfplatz Es ging eine 761jährige Geschichte der selbstständigen Gemeinde Bettenhausen zu Ende. Am 1. April 1906 übernahm die Residenzstadt Cassel die Verwaltung von Bettenhausen.
In den Folgejahren fand auf der Leipziger Straße immer wieder prächtige Paraden statt, die ich von meiner Spitze aus gut beobachten konnte. So zum Beispiel auch 1913 als zum Anlass der 1000 Jahr-Feier der Stadt die Häuser alle mit Girlanden feierlich geschmückt waren. Auch auf meinen Zweigen hingen bunte Papierstreifen.

Leipziger Str. 79 mit Bus vor der Tür, geschmückt zur 1000 Jahr-Feier
Leipziger Straße geschmückt zur 1000 Jahr-Feier  Foto: Archiv Bettenhausen früher und heute

Als ich mit 14-15 Jahren mannbar also geschlechtsreif war und das erste Mal blühte, zogen kriegsbegeisterte Soldaten unter Jubel der Bevölkerung an mir vorbei, um später an der Front des Weltkrieges ihr Leben zu lassen. Ab 1915 eilten täglich viele Arbeiterinnen auf dem Weg von und zur Munitionsfabrik vorbei. Sie war hinter mir von tausenden Kriegsgefangenen im Casseler-Forst in nur einem Jahr errichtet worden. Es folgten traurige und entbehrungsreiche Jahre für die Menschen. Meine Kastanien in ihren grünen stacheligen Hüllen waren im September noch gut geschützt. Erst im Oktober brachen die Hüllen auf und die Kastanien guckten heraus. Den Kinder bereiteten meine braunen Früchte, die zum Boden fielen, eine helle Freude. Es entstand ein richtiger Sammelwettbewerb. Das lenkte von ihrem sonst tristen Alltag ab. Im November 1918 fielen meine letzten Blätter. Der Krieg war zu Ende, Deutschland hatte verloren und der Kaiser musste abdanken.

Gechmückte Häuser zur 800 Jahr-Feier in Bettenhausen
Leipziger Straße, 800 Jahr-Feier in Bettenhausen, 1927  Foto: Stadtteilzentrum Agathof e.V.

Eines der schönsten Feste erlebte ich im August 1927. In der Leipziger Straße waren soweit ich von meiner Spitze schauen konnte auf beiden Seiten die Häuser mit Girlanden und Fahnen geschmückt. Plötzlich erklang die Musik und Preußens Gloria ertönte. Herolde traten in die Mitte der Straße. Der Festausschuss des Bürgervereins Bettenhausen begrüßte die Ehrengäste allen voran den Obermeister Dr, Stadler und den Fabrikant und Stadtverordneten Ernst Rocholl. Dem Festausschuss gehörte auch der Lehrer Fritz Wiederhold an. Ihn erkannte ich sofort, er wohnte in dem Haus Nr. 114 direkt hinter mir. Nach diesem offiziellen Akt setzt sich der Festzug zur 800 Jahr-Feier von Bettenhausen am Sonntagnachmittag mit vielen Motiv-Wagen, Reitergruppen, Turnerverbänden und Fußgruppen in Bewegung. An den Straßenrädern jubelte die Bevölkerung. So einen Aufmarsch hatte es seit der 1000 Jahrfeier der Stadt Kassel nicht mehr gegeben. Nach einer gefühlten Ewigkeit bog der letzte Wagen in die Kirchgasse bei der Marienkirche ab. Das Volk feierte drei Tage auf der Diemar-Hellerschen-Wiese in der Agathofstraße.

Jahre gingen ins Land und meine Krone wurde immer mächtiger. Im Garten unter meiner großen Blätterkrone fanden die Anwohner im heißen Sommer 1939 wohltuenden Schatten. Im Haus 114 lebte nun nur noch die Witwe von Herrn Schmidt und in ihrem kleinen Laden betrieb die Hebamme Friedel Schröder ihre Praxis. In diesem Sommer vom 2. bis 4. Juni kündigten sich heiße Tage für Kassel an. Ich brauchte jetzt viel Wasser, weil ich wachsen wollte. Die Nazis hatten 1933 die Macht in Deutschland übernommen. Zur Demonstration ihrer militärischen Stärke wurden in Kassel die sog. Reichskriegertage abgehalten. Kassel hatte sich besonders für den Sonntag herausgeputzt. Überall wehten die roten Hakenkreuz Fahnen. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich in den Morgenstun­den des Sonntags die Nachricht, dass Hitler auf dem Flugplatz in Waldau eintreffen werde. Würde er auch bei mir vorbeifahren? Die „Kasseler Neueste Nach­richten“ berichtete am nächsten Tag von einer Triumphfahrt: „Hitler steht und grüßt in seinem offenen Wagen. Er rollte über die Leipziger Straße, die Fuldabrücke, die Altstadt hinaus bis zur Königsstraße.“

Schon wenige Wochen später mündete die Euphorie des Volkes in eine Katastrophe, der Zweite Weltkrieg begann. In diesen bitteren Kriegszeiten erfuhren die Menschen, die Häuser und auch ich Leid und Zerstörung. In mehren Bombenangriffen wurde Kassel und ins besonders Bettenhausen wegen der rüstungswichtigen Betriebe schwer getroffen. Der Feuersturm am 22. Oktober 1943 war der zerstörerischste Schlag. Die Altstadt und die Unterneustadt wurden total zerstört. Auswirkungen gab es auch in der Leipziger Straße in Bettenhausen. Ich verlor alle Blätter und einige Äste. Bei den Häusern in unmittelbarer Nachbarschaft wurden Dächer abgedeckt oder sie wurden teilzerstört. Viele Menschen starben oder wurden obdachlos. In den Tagen danach erkannte ich das ganze Leid des totalen Krieges. Ein Großteil der 10.000 Toten dieses massiven Fliegerangriffs wurden auf Pritschen von LKWs gestapelt über die Leipziger Straße zum Bettenhäuser Friedhof transportiert. Dort fanden sie in Massengräbern ihre letzte Ruhe.

Leipziger Str.mit vielen Autos, 1952, Bildmitte die Kastanie
Autos 1952, Bildmitte die Kastanie  Foto: Stadtteilzentrum Agathof e.V.

Erst in den 1950er Jahren regte sich neues Leben in der Stadt. Es kamen der Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder. Die Schornsteine der Spifa auf dem Gelände der ehemaligen Muni hinter mir rauchten wieder und bei Westwind konnte man den Gestank nach faulen Eiern sehr deutlich wahrnehmen. Auf alles, auch mein Blätterdach, legte sich der feine Braunkohlenasche ihres Schornsteins. Ich wollte richtig aufwachsen und ich freute mich riesig auf jeden neuen Frühling. Die Leipziger Straße säumten inzwischen viele andere Verwandte von mir. Sie zeigte sich wie eine echte Allee mit Kopfsteinpflaster, aber mittendrin die Straßenbahngeleise. An den Straßenrändern parkten jetzt viele Autos vor den Geschäften. Gesperrt für den Verkehr wurde die Straße nur wenn es mal wieder ein Fahrradrennen gab. Zuschauer standen dann am Straßenrand. Aber auch als 1956 Männer aus russischer Kriegsgefangenschaft in Bussen nach Kassel gefahren werden, winken an der Leipziger Straße in Bettenhausen viele Menschen am Straßenrand.

 Leipziger Str. 120, Fahrradrennen, 1950
Leipziger Str. 120, Fahrradrennen, 1950  Foto: Stadtteilzentrum Agathof e. V.

1955 feierte die Firma Eisen Knetsch, der Spezialist in Kleineisenwaren, Schrauben aller Art und Werkzeugen ihr 25jähriges Bestehen. Nach dem Wilhelm Knetsch mit seiner Firma in der Ochshäuser Straße im Krieg ausgebombt war, eröffnete er im neu erbauten Laden auf dem Grundstück Leipziger Straße 114 eine seiner vier Filialen in Kassel. Dies sollte, wie sich zeigte, ein dauerhafter Standort für dieses besondere Fachgeschäft in Bettenhausen über Jahrzehnte bleiben. Auf Wilhelm folgte 1959 Rolf Kentsch. Dann übernahm Adam Krug das Geschäft und nannte es Eisen Krug. Schließlich stieg der einstige Lehrling, Erich Jeschke, als Chef in dem Laden auf. Der kleine Köter von Rolf pinkelte jeden Tag mindestens einmal an meinen Stamm, dies bereitete ihm sichtliches Vergnügen, damit war sein Revier markiert. Das war aus seiner Sicht schon wichtig, denn so manches Herrchen mit Hund ging hier vorbei um beim Schuster Junge im Hinterhof seine Schuhe abzugeben.

1976 gab es wiedermal ein großes Fest in Bettenhausen. Mein Standort an der Leipziger Straße war dabei als die Festwoche vom 22.-30. August zum 850jährigen Bestehen begangen wurde. Gleichzeitig jährte sich die Eingemeindung als Stadtteil von Kassel zum 70sten mal. Ich stand in der Mitte meines Lebens in voller Blüte und konnte dem bunten Festzug mit seinen Tanzgarden, den VfB Fußballer auf dem Festwagen, dem Wagen des Bäckerhandwerks und dem des Küfers Vikum im Vorbeifahren von oben in Ruhe betrachten. Dazwischen marschierten Spielmannszüge und Blaskapellen im Gleichschritt vorbei. Eine gelungener Festumzug.

Parkplatz vor Leipziger Str. 118-112, 1990
Parkplatz vor Leipziger Str. 118-112, 1990  Foto: Stadtteilzentrum Agathof e. V.

Die Flächen um mich herum waren verändert worden, aus den Vorgärten entstanden asphaltierte Parkplätze für die stinkenden Autos. Von denen gab es immer mehr, dafür wurde sogar die Straße mehrspurig ausgebaut . Die anderen Bäume mussten weichen, aber ich blieb verschont. Die Straßenbahn erhielt jetzt direkt vor mir an der Ringhofstraße die Haltestelle -Kirchgasse-. Der Handel in den vielen Läden entlang der Straße blühte. Am Hausgiebel vom ehemaligen Malerbetrieb stieg nun ein großer Heißluftballon mit Werbeschriftzug „Lecker Becker“ in den blauen Himmel.

Blick auf Giebel von Leipziger Str. 120 und Kastanie, 1996
Blick auf Giebel von Leipziger Str. 120 und Kastanie, 1996  Foto: Stadtteilzentrum Agathof e. V.

Nebenan auf dem Grundstück 116 entstand Jahre später noch ein neues Wohn- und  Geschäftsgebäude. Günter Stranz, der Sohn des Elektrofachgeschäftes Heinrich Stranz auf der anderen Straßenseite, bot hier Unterhaltungselektronik von hoher Qualität zum Kauf und Veranstaltungsservice an. Die 112 gehörte jetzt dem Drogisten Karl-Heinz Franke, der sein Geschäft und Wohnung im Haus 110 hatte.

blühende Kastanie vor Leipziger Str. 114-116, 2008
Blühende Kastanie vor Leipziger Str. 114-116, 2008  Foto: Stadtteilzentrum Agathof e. V.

Inzwischen bin ich mehr als hundert Jahre alt. Die Documenta Stadt Kassel hat 2013 seine 1100 Jahrfeier begangen. Im Straßenbahnnetz verkehrt auch die Regiotram (RT), die die Fahrgäste bis weit in das Kasseler Umland des Lossetals befördert. Dafür fahren vom Bettenhäuser Bahnhof keine Personenzüge mehr ab. Von den zahlreichen Geschäften um mich herum haben nur wenige das Sterben des Einzelhandels überlebt. Doch das Fachgeschäft Eisen Krug gleich neben mir gibt es immer noch. Im Trainingsstudio Bodystreet Kassel nebenan kann man seine Muskel ertüchtigen und seine Fitness steigern. In Zeiten der Corona Krise und dem damit verbundenen Lockdown hatten auch diese geschlossen. Es war beängstigend still um mich, fast kein Verkehr und wenige Menschen auf der Straße.

Junger Baum vor Leipziger Str. 114, in Corona-Zeiten 2020
Junger Baum vor Leipziger Str. 114, in Corona-Zeiten 2020  Foto: Erhard Schaeffer, Kassel

Zu meiner Freude wächst jetzt neben mir ein neuer Baum heran, der mich im Fall der Altersschwäche ersetzen wird. Doch meine Spezies Baum kann bis zu 200 Jahre alt werden. Ich bin gespannt was ich in den nächsten Jahrzehnten noch Interessantes erleben werde.

Text: Erhard Schaeffer, Juni 2020

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Kurzbeschreibung

Wer stadtauswärts auf der Leipziger Straße durch Bettenhausen fährt erkennt schon früh auf der rechten Seite in Höhe der Hausnummern 114-116 einen mächtigen Kastanienbaum. Der fast einen Meter starke Stamm zeugt von einem hohen Alter dieses Solitärs. Man fragt sich was hat dieser stolze Baum schon alles im Laufe seines langen Lebens erlebt und mitansehen müssen. Wir lassen ihn einfach mal erzählen und lesen seine kleinen Geschichten, die in der Zeit des eigenständigen Dorfes Bettenhausen am Anfang des 20. Jahrhunderts beginnen.

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