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Wie alles begann

Gisela Stratmann (re.) mit Mitschülerinen vor der Schule Am Lindenberg 1954

Gisela Stratmann (re.) mit Mitschülerinnen vor der Schule Am Lindenberg
Foto: Gisela Stratmann

Die Praxis Stratmann hat in Bettenhausen eine lange Historie die bereits 1946 kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unter schwierigen Bedingungen begann. Willi Stratmann, der Staatlich geprüfter Masseur, med. Bademeister und med. Fußpfleger war, machte in einem Bunker seine erste bescheidene Praxis auf. Über mehrere Umzüge und Erweiterungen der medizinischen Einrichtung fanden die Stratmanns ihren jetzigen Sitz in der Burgstraße 30 / Ecke Pfarrstraße. Dort betreibt die Physiotherapeutin Diana Carl-Menzel in dritter Generation die ortsbekannte Praxis für Physiotherapie. Ihre Mutter und Tochter des Gründers, Gisela Stratmann-Kaulitz, erzählt hier aus der Sicht der zweiten Generation beachtenswert offen wie alles begann.

Hochbunker an der Leipziger Straße davorgebaut Wohnungen und eine Geschäftszeile
Hochbunker Leipziger Straße, 2004  Foto: Stadtteilzentrum Agathof e. V.

Die Jahre im Bunker

1946 das Leben nach dem Krieg war nicht einfach. Jeder versuchte, einer Arbeit nachzugehen, um ein bisschen Geld zu verdienen, um wenigstens einigermaßen leben zu können. Mein Vater, Willi Stratmann, war schon 47 Jahre alt, als er die Ausbildung zum „Staatlich geprüften Masseur, med. Bademeister und med. Fußpfleger“ machte.

Aus finanziellen Gründen konnte er sich keine großen Praxisräume leisten, so begann er im damaligen Hochbunker (im heutigen Musikbunker) in einem Raum, in dem es keine Fenster gab, medizinische Fußpflege anzubieten. Dort hatte auch Zahnarzt Löwer seine Praxis und Papier-Groß das Büro und Lager. Mein Vater hatte außerdem noch die Aufgabe übernommen, den Bunker morgens aufzuschließen und abends wieder zu verschließen. Der monatliche Lohn betrug 12 DM.

Das Pfarrhaus 1951 von der Eichwaldstraße aufgenommen. im Vordergrund eine Frau mit zwei Kindern und ein Strommast
Das Pfarrhaus 1951  Foto: Evangelische Kirchengemeinde Bettenhausen

An die Zeit im Bunker kann ich mich nur vage erinnern ich war einfach noch zu klein. Aber einige Erlebnisse hatte ich trotzdem, an die ich mich erinnere. Zum Beispiel standen in dem Treppenhaus riesige Kartons von den Amerikanern, sogenannte Care-Pakete, in denen sehr schöne Kleidung zu finden war, die an Bedürftige verteilt wurde. In einem Karton waren Schuhe, leider nur linke…. Der Karton mit den „rechten“ Schuhen war nicht mitgekommen. Einmal verirrte ich mich in den langen Gängen und Kammern und hatte furchtbare Angst. Ich glaube, seitdem leide ich wenig unter Platzangst. Die meisten Stunden verbrachte ich aber im evangelischen Kindergarten in der oberen Pfarrstraße. Dorthin brachte mich mein Vater mit dem Fahrrad. Und dort arbeitete eine sehr liebe Kindergärtnerin, Tante Ursel, der ich dann später auch wieder begegnet bin….. aber jetzt erst mal der Reihe nach.

Hildegard Stratmann in einer Gruppe von Rohrbachschülern vor einem Gebäude
Hildegard Stratmann in einer Gruppe von Rohrbachschülern  Foto: Stratmann

Meine Eltern arbeiteten einige Jahre in dem Bunker. Meine Mutter hatte auch ihr Staatsexamen als Masseurin usw. abgelegt, und dann kam natürlich der Wunsch auf, sich zu verändern, das anzubieten, was ihre Ausbildung ihnen möglich machte. Sie fanden Räume in der damaligen Dorfstraße (heute Erfurter Straße), die passend schienen, um die erste Massagepraxis mit medizinischen Bädern, Bewegungstherapie und med. Fußpflege in Bettenhausen zu eröffnen. Meine Mutter war sehr ängstlich so ein Risiko einzugehen, denn die finanziellen Mittel waren begrenzt. Dann kam der Zufall zu Hilfe. Zu unseren Patienten zählten auch Herr Krell von der Molkerei Krell am Lindenberg und Herr Hausmann von der Spedition Hausmann, die in der Leipziger Str. ansässig war. Beide liehen meinen Eltern fünfhundert D-Mark, was für meine Mutter schlaflose Nächte bedeutete, denn sie quälte die Frage, ob sie diese „Summe“ jemals zurückzahlen konnten.

Anzeigen 1956 Willi Stratmann Heilbad und Willibald Kirchner Samen- und Zoofachgeschäft beide in der Dorfstraße 29
Anzeigen aus 1956, beide Geschäfte im Haus Sinning Dorfstraße 29  Foto: Bettenhäuser Verlag

Die neue Praxis in der Dorfstraße

Die Räume im Hause Sinning in der Dorfstr. 29 wurden hergerichtet. Das bedeutete: In einem Raum wurden zwei Badekabinen eingerichtet mit einem riesigen Wassertank an der Wand, der das Wasser für die med. Bäder lieferte. Zwei Abflüsse im Boden nahmen das ablaufende Wasser aus den Wannen nur sehr langsam auf. Das musste schneller gehen, also nahm man Eimer und schöpfte fleißig, denn der nächste Patient wartete schon… Gott sein Dank!

Blick auf das Haus Erfurterstraße 29 mit Ladengeschäft im EG, im Hintergrund die Häuser der Osterholzstraße
Im Haus Erfurter Straße 29 befand sich einst das Heilbad Stratmann  Foto: Stadtteilzentrum Agathof e.V. 2008

In einem klitzekleinen Raum neben den Wannenbädern war die „Moorküche“, in der das Moor-Paraffin-Gemisch für die Packungen erwärmt wurde. Auf einem kleinen Herd in dieser Küche, kochte mein Vater immer dann Muscheln, wenn seine Geldgeber zur Behandlung kamen. Sie genossen mit großer Freude ihre Mahlzeit. Heute undenkbar, schon die Gerüche, die durch die Praxis zogen. Aber zu der Zeit war alles anders. Unser kleiner Aufenthaltsraum war im gleichen Raum wie die Toilette, die nur durch einen Vorhang voneinander getrennt waren. Na, denken wir mal nicht weiter darüber nach. Dann gab es noch vier Massagekabinen und zwei Fußpflegekabinen.

Praxis Kabine zwischen Vorhängen, auf dem Tisch Instrumente zur Fußpflege
Fußpflegekabine in der Praxis W. Stratmann  Foto: Gisela Startmann

Wenn ich mal krank war, wurde ich von Massagebank zu Massagebank umgebettet. Daran kann ich mich noch gut erinnern, auch daran, wie gut man schlafen konnte, wenn man die Gespräche in den Nachbarkabinen nicht verfolgte und sich nur auf die Monotonie der Stimmen einließ. Ja, nicht vergessen möchte ich zu erwähnen, wie die ganze Praxis beheizt wurde. Im Flur, ziemlich zentral in der Praxis stand ein riesiger Ofen, der mit Koks beheizt wurde. In hohen Behältern wurde der Koks aus dem Keller geholt und nach Bedarf verheizt. Die „Schlacke“ musste abends wieder entfernt werden, damit am nächsten Tag die Räume wieder warm gemacht werden konnten. Das Procedere hat viel körperliche Kraft erfordert. Neben uns hatte Zoo-Kirchner seinen Laden mit lebenden Tieren und alles, was man für sie brauchte. Eine nette Familie! Überhaupt hatte man damals noch viel menschlichen, sehr freundlichen und humorvollen nachbarschaftlichen Kontakt. Einer hat dem anderen im Bedarfsfall geholfen.

Kinder auf dem Eis der Losse 1953, im Hintergrund Holz-Notkirche am Dorfplatz
Kinder auf dem Eis der Losse 1953,  Foto: Stadtteilzentrum Agathof e. V.

Nach der Grundschule, "Am Lindenberg", ging ich in den „Städtischen Kindergarten“ (Osterholzstraße), in dem es auch Mittagessen gab und die kleineren Kinder ihren Mittagsschlaf halten mussten. Ich durfte sie manchmal beaufsichtigen. Am Nachmittag haben wir miteinander gespielt. Und da ich immer irgendwie „untergebracht“ werden musste, weil meine Eltern beide arbeiten mussten, ging ich in die erste Ganztagsschule, die es in Kassel gab. In meiner Freizeit habe ich mich mit den Kindern aus der Nachbarschaft, der Dorfstraße, getroffen. Wir haben uns viel an der Losse aufgehalten und im Winter mit Schlittschuhlaufen auf der zugefrorenen Losse unsere Zeit verbracht. Es war eine schöne Zeit.

Schichtwechsel bei der ENKA-AG
Schichtwechsel bei der ENKA-AG  Foto: @Stadtteilzentrum Agathof.de

Ja, ich wurde älter und die Frage der Berufswahl stand an: Meine Eltern wollten auf keinen Fall, dass ich einen so körperlich schweren Beruf erlerne…. Und als braves Kind habe ich mich dann für eine kaufmännische Lehre entschieden. In der damaligen Spinnfaser, später Glanzstoff absolvierte ich eine kaufmännische Ausbildung. Ich arbeitete auch noch ein Jahr dort, aber es war einfach nicht mein Ding. Ich durfte dann doch in die Fußstapfen meiner Eltern treten und besuchte wie sie auch die Rohrbachschule und wurde: „Na, Sie wissen schon“. Und weil alles ein wenig fortschrittlicher, schöner, größer werden sollte, mieteten meine Eltern Räume in der Pfarrstraße 17 an.

 

Gruppe von Schüler und Ausbilder sitzen vor dem Gebäude der Rohrbachschul
Gruppe von Schülern der Physiotherapie in der Rohrbachschule (Gisal Strattmann 1. Reihe 2. von re.)  Foto: Gisela Stratmann

Räume in der Pfarrstraße

Dort wurde eine Heizung eingebaut, große Fenster sorgten für Helligkeit, und wir richteten die Praxis liebevoll ein. Neben uns war auf der eine Seite eine Fahrschule und auf der anderen Seite ein Bestattungsinstitut. Alles, was man im Leben oder danach braucht…. Ach ja, und in diesem Haus wohnte im ersten Stock die Tante Ursel aus dem Kindergarten. Ich habe mich sehr gefreut, sie wiederzusehen.
Nach meinem Praktikum in der „Städtischen Klinik“ verlegte ich mein Arbeitsfeld in die Praxis meiner Eltern. Mein Vater, fast 70 Jahre alt, konnte endlich in den wohlverdienten Ruhestand gehen, den er nur noch eineinhalb Jahre genießen konnte. Meine Mutter arbeitete als Fußpflegerin weiter, bis auch sie 1987 aufhörte, in der Praxis zu arbeiten.

Mit 25 Jahren habe ich die Praxis übernommen. Als dann die Fahrschule nebenan in andere Räume zog, habe ich diese noch dazu genommen, um ein größeres Platzangebot zu haben. Und dann begann viele Jahre eine abwechslungsreiche, manchmal abenteuerliche Zeit mit viel Arbeit, einigen privaten Tiefschlägen, so wie das Leben halt spielt, mal hoch, mal tief…. „Sich aber nicht unterkriegen lassen“, das war meine Devise.

Anzeige 1988, Massage und Flusspflege Praxis Giesela Stratmann
Anzeige 1988  Foto: VfB Kassel e.V.

Praxis in der 3. Generation

1989 zwang mich eine Krankheit über mein Leben nachzudenken, mir einzugestehen, dass es nicht nur aus Arbeit bestehen darf, was zur Folge hatte, dass ich den Betrieb herunterfahren musste, bis sich meine Tochter Diana aus eigener Motivation heraus entschloss, die Praxis Stratmann wieder aufzubauen. Als Physiotherapeutin und mit genauso viel Liebe zu ihrem Beruf und Engagement mit Menschen zu arbeiten, übernahm sie 1997 in 3. Generation die Praxis in der Pfarrstraße. Sie nahm noch die Räume des Bestattungsinstitutes dazu, als diese ihr Geschäft nach Kassel verlegten. Als sich dann die Gelegenheit ergab, eine neue Praxis zu bauen, hat sie das mit Fleiß und Einsatz getan. Und was sie daraus gemacht hat, das können Sie sich gern in den neuen Praxisräumen in der Burgstraße 30, Ecke Pfarrstraße, ansehen.

Praxis Stratmann Burgstraße 30 / Ecke Pfarrstraße 2018
Praxis Stratmann Burgstraße 30 / Ecke Pfarrstraße 2018   Foto: G. Stratmann

Ich bin sehr dankbar, so eine patente, lebensbejahende und charismatische Tochter zu haben. Und wie es aussieht, scheint die 4. Generation ein großes Interesse daran zu haben, in Mamas Praxis zu arbeiten… Aber bis dahin ist noch ein wenig Zeit.

Erzählt von Gisela Stratmann-Kaulitz

Editor: Erhard Schaeffer, März 2023

Quellen:

  • Fotos Gisela Stratmann-Kaulitz
  • Stratmann, Praxis für Physiotherapie

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Kurzbeschreibung

Die Praxis Stratmann hat in Bettenhausen eine lange Historie die bereits 1946 kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unter schwierigen Bedingungen begann. Willi Stratmann, der Staatlich geprüfter Masseur, med. Bademeister und med. Fußpfleger war, machte in einem Bunker seine erste bescheidene Praxis auf. Über mehrere Umzüge und Erweiterungen der medizinischen Einrichtung fanden die Stratmanns ihren jetzigen Sitz in der Burgstraße 30 / Ecke Pfarrstraße. Dort betreibt die Physiotherapeutin Diana Carl-Menzel in dritter Generation die ortsbekannte Praxis für Physiotherapie. Ihre Mutter und Tochter des Gründers, Gisela Stratmann-Kaulitz, erzählt hier aus der Sicht der zweiten Generation beachtenswert offen wie alles begann.

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