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Gedanken an Waldau
- Autor: Erhard Schaeffer
- Zeit: 2006
- Ort: Alt Waldau
- Vom: 27.04.2016
- Themen: Jugend- und Kindheitserinnerungen, Künstler, Chronisten und Biografen
Margot Wagner, Jahrgang 1935, bezeichnet sich selbst als alte Kasselanerin, obwohl in ihrer Geburtsurkunde als Geburtsort der Name Waldau steht. Die Autorin dieses Beitrages liest Lyrik, Kurzgeschichten und Prosa, die sie selbst verfasst. Sie ist Mitglied der AWO-Literaturagentur. Mit - Gedanken an Waldau – erinnert sie sich an ihre frühen Kindheitseindrücke im Nazi-Deutschland.
In meiner Geburtsurkunde steht als Geburtsort der schöne Namen Waldau. Was kann man da nicht alles in seine Fantasie sehen: „Wald“ und „Au“ und eine Waldaue, idyllische, voller wunderbare Flora und Fauna. Aber dieser schöne Fantasie-Wald ist heute nicht mehr da, nicht mehr nah, er hat sich weit zurück gezogen, bis zur Söhre. Doch manche Standortbeschreibungen, wie Forstbach, Forstfeld, Försterhof in und um Waldau herum, deuten heute noch auf ehemaligen Wald hin. Aber die Au von Waldau kann man jetzt noch sehen, nämlich entlang des Wahlebachs bis zur Fulda hinunter. Trotz der vielen Neubauten und des riesigen bebauten Industriegebietes Waldau kann man noch Feuchtgebiete antreffen. Und immer wieder sehe ich viele Enten, meistens paarweise zur Brutzeit und später auch ihren süßen goldigen Nachwuchs. Dieses Entenvölkchen hat den Waldauern ihren Spitznamen verpasst, nämlich „Waldauer Enten“- möglichst mit „Ä“ auszusprechen im richtigen Waldauer Platt „Waldauer-Änten“.
Als Kind zählte ich mich auch zu den „Änten“, wollte doch kein Außenseiter sein. Ohne mich zu fragen hatte in der Zeit des Größenwahnsinns der Nazis die Stadt Kassel das Dörfchen Waldau eingemeindet. Dies bestimmt nicht wegen mir kleinen „Ente“, sondern wegen der in Waldau ansässigen Fieseler Flugzeugwerke. Nun, ich, die inzwischen alte Kasselanerin, wohne noch immer in meinem Geburtshaus, das steht wie eh und je (laut Katasteramt) auf einem Flurstück von Waldau. So fühle ich mich sowohl zu Waldau als auch nach der Eingemeindung zu Kassel gehörig und solidarisch.
In meiner Kindheit waren auf den Fluren Waldaus ganz andere Winde los. Waldau hatte nämlich einen kleinen Flughafen, auf dem landete nicht nur der Zeppelin, sondern auch einmal der schreckliche Hitler. Die Zeppelin-Landung erlebte ich an Vaters Hand und im Gedränge der vielen ebenso neugierigen Menschen voller Aufregung mit; der Hitler „Anflug“ ging damals noch spurlos an mir vorüber.
Doch bald danach haben ich sich mir schlimme Erinnerungen eingeprägt, z.B. via Volksempfänger-Radio hörte ich Hitlers knorzige, bellende Stimme und konnte als Fünfjährige nicht verstehen, warum meine viel älteren Geschwister gespannt dieser mir Angst machenden Stimme lauschten. Viel lieber hörte ich die weiche Stimme eines Sängers – wie hieß er noch – war es Rudi Schuricke? Er sang ganz wehmütig „Heimat deine Sterne“ und da meine beiden Brüder bereits in den Krieg eingezogen waren, dachte ich an sie dabei, ob sie wohl auch so sehnsüchtig an uns in der Heimat dachten.
In der Heimat mussten im Kasseler Wohngebiet, die sog. „Untermenschen“ (russische Kriegsgefangene) einstweilen zur Sicherheit der Frauen und Kinder beitragen, indem sie im steinigen Boden Erdlöscher aushoben, die als Bunker primitivster Art vor den Bomben der Tommys und Amis nie wirklich geschützt hätten. So geschah es auch bei uns im Garten. Ein abgemagerter Kriegsgefangener, der wohl aus Kirgisien stammte, quälte sich sehr bei dieser Schwerarbeit. Meine Mutter hatte Mitleid und schmierte ihm täglich dicke Stullen mit Fett und versteckte sie in meinem Puppenwagen. Auch Muckefuck hatte sie in einem Humpen dazugestellt. Sie wies mich flüsternd an, dass ich das ganze dem armen Mann so hinter den ausgehobenen Erdwall stellen sollte, dass es die Nachbarn nicht sehen konnten. Ich sehe noch heute die gütigen dunklen Augen des erbarmungswürdigen Mannes und seine Dankbarkeit in seinen vor der Brust gefalteten Händen. Er demonstrierte mir mit Fingerzeig, dass er zwei Kinder in etwa meiner Größe hatte, und ich sah seine Sehnsucht nach ihnen in seinen Augen. Mit meinen acht Jahren erkannte ich auch, dass er ganz bestimmt kein „Untermensch“ sondern ein demütiger, guter Mensch war.
Eine andere kostbare Erinnerung: Zwei Jahr später, endlich kein Krieg mehr, wurden wir am Heiligabend auf dem Gelände der Fieseler Werke von den inzwischen dort stationierten Amerikanern mit einer köstlichen Bescherung überrascht. Die Kinder aus dem ganzen Umfeld wurden mit vorher nie gekannten Süßigkeiten verwöhnt und sogar mit einer Märchenaufführung getröstet. Die Amerikaner wollten wirklich etwas gut machen für all die angstvollen Jahre der Bombardierung. Sie lehrten uns auch das bereits schon weltbekannte Weihnachtslied „Stille Nacht“ auf Englisch an diesem beglückendem Abend. Der englische Text ist mir bis heute im Gedächtnis.
Nicht zuletzt sollten wir unsere Zivilcourage dort einsetzen wo Bedrohung und Gewalt oder rassistische Tendenzen auflodern; dagegen steht mein eigenes negatives Erinnern und macht mich stark.
Text: Margot Wagner, 2006
Editor: Erhard Schaeffer, April 2016
Quelle:
- Kassel Privat, AWO Stadtteilzentrum Niederzwehren, Margot Wagner 2006
- AK Archiv Rolf Nagel
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Kurzbeschreibung
Margot Wagner, Jahrgang 1935, bezeichnet sich selbst als alte Kasselanerin, obwohl in ihrer Geburtsurkunde als Geburtsort der Name Waldau steht. Die Autorin dieses Beitrages liest Lyrik, Kurzgeschichten und Prosa, die sie selbst verfasst. Sie ist Mitglied der AWO-Literaturagentur. Mit - Gedanken an Waldau – erinnert sie sich an ihre frühen Kindheitseindrücke im Nazi-Deutschland.
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